Eine Weihnachtsgeschichte

 

Eine Tür, eine Tür/tut sich auf für mich/und das Licht, und das Licht/das grüßt dich und mich.

 

     Anna hält den Stab ihrer St. Martins-Laterne fest in der Hand. Das Papier des Schirmes ist eingeknickt und faltig, aber noch ganz, obwohl sie den Lampion in den vergangenen Tagen schon einige Male über den Asphalt geschleift hat. „Laterne, Laterne!“, ruft sie aufgeregt, während Mama versucht, ihr die Schuhe anzuziehen. Sie sitzt auf der Treppenstufe, auf dem Kopf eine dicke, wärmende Mütze, gekleidet in einer wattierten Jacke, über der Strumpfhose und der Jeans hat sie eine Matschhose. „Fertig!“, sagt Mama und nimmt ihre Hand. Etwas tapsig geht sie die beiden Treppenstufen hinunter. Es ist dunkel, in der Straße verbreiten die wenigen Laternen nur ein diffuses Licht. Aber das Licht im Lampion strahlt, das sieht sie, darauf konzentriert sie sich. „Papa kommt!“, ruft sie, und Papa sagt: „Ja, ich komme, ich schließe nur noch die Tür zu.“

     Der Wind fährt in die Zweige des großen Tannenbaumes, der in der Mitte des Rosenbeetes steht. Die Kerzen zittern, aber nicht eine von ihnen fällt ab. Etwa zwanzig Männer, Frauen und Kinder haben sich eingefunden, um zur nächsten Station des Adventskalenders zu gehen. Es ist kurz vor halb sechs. Eine Frau verteilt Liederhefte. Anna steht und schaut, hält die zerknitterte Laterne in der Luft. „Laterne, Laterne“, sagt sie leise, „Sonne, Mond und Sterne.“ Heute sind mehr Menschen hier als am Sonnabend, als sie zu einem Geschäft in der Fußgängerzone gegangen sind, in deren Auslage die Besitzerin das zehnte Fenster gestaltet hatte: Figuren aus Filz und Schiffe, ein großes und mehrere kleine. Es hat ihr Spaß gemacht. Ein Mann hat auf einer Tuba Weihnachtslieder geblasen, und zum Abschluss gab es Plätzchen. Mm, lecker!, denkt Anna. Als sie mit Mama und Papa zurück zu ihrer Wohnung ging, stand der Mond hell und voll am Himmel. Sonst war niemand in der Straße, nur sie, die glücklich ihre Laterne schwenkte, Mama und Papa.

 

     Um halb sechs Uhr läuten die Glocken. Die Menschen singen ein Lied, das Anna noch nicht mitsingen kann. Sie kann schon viele Lieder auswendig, aber dieses hier noch nicht. Die Männer, Frauen und Kinder gehen los. In der Schule ist das 12. Adventsfenster aufgebaut. Anna, Mama und Papa sind beinah die Letzten, denn Annas Beine können noch nicht so schnell laufen. Sie ist jetzt zwei Jahre, zwei Monate und zwölf Tage alt. „Anna hält die Laterne hoch in die Luft!“, sagt Anna. Tatsächlich ist es auf dem Weg, der zur Schule führt, stockfinster, auch auf dem Schulhof ist es dunkel. Umso mehr freut sich Anna am Schein des Lichtes, das im Lampion steckt und den Mond, der darauf abgebildet ist, zum Leuchten bringt.

 

     Tritt herein, tritt herein, schau das Wunder an,/ wie ein Kind, wie ein Kind/ uns verwandeln kann. 
Die Menschen haben sich vor der Schule versammelt. Die Frau, die die Liederhefte verteilt hat, erzählt die Geschichte von Micha weiter. Anna steht und schaut. Vor ihr ist eine große Wasserpfütze. Sie tritt hinein. Mama zieht sie zurück, aber die Pfütze ist viel zu attraktiv, als dass sie davon lassen könnte, darin herumzustampfen. Schließlich singen die Menschen wieder. Das Lied gefällt ihr, und sie kann sogar den Refrain, obwohl sie ihn erst dreimal gehört hat, aber ihr Engel hat ihr geholfen. Du kannst das, meine Liebe, hat er zu ihr gesagt. Eine Tür, eine Tür, tut sich auf für mich/und das Licht und das Licht/das grüßt dich und mich. Und jetzt: Macht die Türen auf, macht die Herzen weit/und verschließt euch nicht/es ist Weihnachtszeit. Toll!, denkt Anna. So ein schönes Lied. Mama kniet neben ihr und schaut sie an. Papa steht auf der anderen Seite und blickt zu ihr herunter. Tritt herein, tritt herein, schau das Wunder an,/ wie ein Kind, wie ein Kind/ uns verwandeln kann. Anna schaut zu Papa hoch und denkt: Ja, schau!, dann singt sie wieder den Refrain des Liedes. Jetzt hat Papa sich auch hingekniet. Er streichelt ihre Wange und singt die dritte Strophe. Jesus kommt, Jesus kommt, lädt zum Frieden ein/lass den Streit, lass den Streit/es darf Weihnacht sein. Anna hat gemerkt, wie Papa gestockt hat, und als sie ihn anschaut, bemerkt sie Tränen in seinen Augen. Macht die Türen auf, macht die Herzen weit/und verschließt euch nicht/es ist Weihnachtszeit, singt sie zum dritten Mal. Toll!, sagt Papa und gibt ihr einen Kuss. Eine Frau, die einen weißen Mantel trägt, ein weißes Stirnband um den Kopf, in der Hand ein Windlicht, beugt sich zu ihr herunter und sagt: Das machst du aber klasse. Anna schaut sie aus großen Augen an, dann geht sie mit Mama das Adventsfenster ansehen. … macht die Herzen weit, und verschließt euch nicht, es ist Weihnachtszeit, summt es in ihr.

 

     Jesus kommt, Jesus kommt, lädt zum Frieden ein/lass den Streit, lass den Streit/es darf Weihnacht sein. Der Engel streichelt ihren Kopf und sagt: Das hat du sehr schön gemacht, liebe Anna! Ja, das findet sie auch. Sie hat in Papas Herz gesungen, das hat sie deutlich gespürt. Es war sehr schön, dass der Engel ihn dazu bewegen konnte, mitzugehen, obwohl er zuvor gelaufen war, und keine große Lust mehr hatte, in den Wind und in die Kälte hinauszugehen. Aber Papa liebt sie, und sie liebt Papa, und dass er mit ihr diesen Abend erlebt, ist für ihn ein Wunder, das sein Herz berührt und ihn verwandelt. Das findet Anna schön. Sie ist ihm noch so nahe, dem, der die Liebe ist und das Licht, dass sie ihn spüren kann Tag für Tag. Bei Papa und Mama ist das anders, das weiß sie. Erwachsene plagen sich mit so vielen Problemen herum – dabei gibt es eigentlich gar keine. Sie müssten einfach nur wieder verstehen: Das Licht grüßt dich und mich. Anna weiß es genau. Schließlich kommt sie daher, aus diesem Licht. So viel Zeit ist noch nicht vergangen, als dass sie sich nicht daran erinnern könnte. Aus diesem Licht kommen auch Papa und Mama und Oma und Opa aus Echthausen, Oma und Opa aus Berlin, die Ur-Oma und der Ur-Opa aus dem Erzgebirge, die Ur-Oma aus Berlin, Onkel Siegfried und Tante Anke – alle, alle Menschen kommen aus dem gleichen Licht. Wenn sie das nur verstehen würden, denkt Anna, die jetzt an Mamas Hand über den Schulhof geht, dann gäbe es keinen Streit, nicht eine Minute, nicht eine Sekunde, nie und nie. Macht die Herzen weit, summt sie und schwenkt die Laterne. Komm jetzt, sagt Mama, wir wollen nachhause. Anna bleibt stehen und schaut Mama an, dann Papa. Ja, sie wünscht sich so sehr, dass sie dieses Licht sehen könnten, dass sie eine Tür öffnen und das Wunder ist. Der Engel steht neben ihr, streichelt noch einmal ihre Wange und sagt: Das hast du wirklich sehr schön gemacht, liebe Anna. Schau, wie du sie verwandelt hast, schau, wie sich ihre Herzen öffnen. Ja, sie sieht das Band aus Licht, das von ihrem Herzen zu dem von Mama fließt und zu dem von Papa und zu dem aller Menschen, die um sie sind, zu dem, von allem, was ist, denn alles ist nur eben dies: Liebe und Licht. Anna geht weiter und schwenkt ihre Laterne. Wie schön das ist!, denkt sie und summt: Macht die Türen auf, macht die Herzen weit/und verschließt euch nicht/es ist Weihnachtszeit.

 

copyright 2021 Hubertus Tigges

 

Der Text des Liedes: 

 

Macht die Türen auf


 

1. Eine Tür, eine Tür,


tut sich auf  für mich,


und das Licht und das Licht,


das grüßt dich und mich.



 

Macht die Türen auf,


macht die Herzen weit, 


und verschließt euch nicht:


es ist Weihnachtszeit.



 

2. Tritt herein, tritt herein, 


schau das Wunder an, 


wie ein Kind, wie ein Kind


uns verwandeln kann. 


 

Macht die Türen auf ... 



 

3. Jesus kommt, Jesus kommt,


lädt zum Frieden ein. 


Laß den Streit, laß den Streit, 


es darf Weihnacht sein.


 

Macht die Türen auf ...  


 

Text: Wolfgang Langhardt Rechte: Menschenkinder Verlag, Münster. 
Musik: Detlev Jöcker Aus: MC "Komm wir feiern Weihnacht".

Mühen (Wortesschwere)

 

Unruhig, mit auf dem Rücken verschränkten Händen ging ich auf dem alten Schulhof hin und her. Ein trüber, wolkenverhangener und zu Regen neigender Himmel schickte sich auch während der Mittagszeit nicht an, den grauen Beton etwas freundlicher erscheinen zu lassen, indem er der Sonne eine Lücke ließ, durch die ein paar wenige Strahlen hätten scheinen können. Auf einem Stuhle in der Nähe des mächtigen Stammes eines Kastanienbaumes saß Frau S., eine Aufsicht aus der Fernsprechauskunft, scheinbar gelassen und uninteressiert an dem, was um sie herum vor sich ging. Ich weiß nicht, warum sie hier war, kaum aus dem gleichen Grund, dachte ich, der mich hierhergeführt hatte, aber ihre Anwesenheit störte mich. Ich hatte keine Lust, mit ihr zu reden, und auch sie nahm kaum Notiz von mir, gerade, dass wir uns einen Guten Morgen gewünscht hatten.

Vor zwei Stunden, nachdem ich angekommen war, hatte ich das Manuskript abgegeben. Es gab noch viele andere, die ihre Mappen unter dem Arm trugen. Doch wenn ich es richtig gesehen hatte, besaßen die anderen Werke einen sehr viel geringeren Umfang als das meinige, das, mehrhundertseitig, in zwei lilafarbenen Schutzmappen ruhte. Der Herbst nahte. Ich wollte endlich wissen, ob das Manuskripte Chance hatte, veröffentlicht zu werden oder nicht. Ich blickte hinüber zu Frau S. Es wollte mir nicht in den Kopf, dass diese Frau hier saß und … - häkelte. Sie sollte uns wohl beaufsichtigen. Aber was hatte das für einen Sinn? Wir waren doch keine Schulkinder mehr, die unerlaubt den Hof verlassen wollten, um in einer stillen Ecke eine Zigarette anzuzünden oder uns in Schmuddelheften nackte Frauen anzuschauen. Sie sollte verschwinden, ich wollte nicht, dass sie uns beobachtete. Sie hatte immer ein Auge auf uns, auch wenn sie so tat, als ob sie ganz und gar in ihre Handarbeiten vertieft war. Vielleicht hatte sie ja auch einen Text abgegeben und wartete nun genauso wie die anderen. Doch das konnte ich nicht glauben. Ich wurde immer mürrischer, die Muskeln meines Gesichtes verkrampften sich, die Augenbrauen waren zusammengezogen, die Lippen aufeinander gepresst. Es hing so viel von der Beurteilung ab. Glaubte ich. Wenn sie zustimmten, würde auch dieses Wesen von ihrem Stuhl verschwinden, und ich, ich würde frei sein. Zumindest unabhängiger, als ich es bis zu diesem Zeitpunkt war. Und das bedeutete schon viel.

Einer nach dem anderen von denen, die hier auf dem Schulhof gleich mir ihre Runden gedreht hatten, wurden hereingerufen. Sie verschwanden im Dunkel des Haupteinganges, ich würde sie wohl nicht wiedersehen. Ich kannte niemanden von den Männern und Frauen, die hier zusammengerufen worden waren. Vielleicht würde ich irgendwann in einer Zeitung ein Bild von diesem oder jenem erblicken und ihn wiedererkennen. Mag sein, dass es dazu einen Bericht gab über ihn und sein Werk, das er geschrieben hatte. Dann würde ich mich erinnern und zu meiner Freundin sagen: Schau, dieser hier ist an einem Spätsommernachmittag auf einem Schulhof herumgelaufen. Er hat es geschafft, wie es scheint, die Kommission war günstig gestimmt, er wird besprochen.

Nach welchen Auswahlkriterien wir hier zusammen gerufen worden waren, wusste ich nicht. Etwa eine Woche vor diesem Treffen erreichte mich ein Brief mit der Aufforderung, mich an einem Montag um zehn Uhr vor dem Haupteingang der genannten Schule einzufinden, mein Manuskript abzugeben, damit über die Möglichkeit einer Veröffentlichung entschieden werden könnte. Als Absender prangte lediglich der Begriff „Literaturkommission“ auf dem Umschlag. Eine derartige Einrichtung war mir bis dahin völlig unbekannt. Um eine Verlagsbezeichnung konnte es sich ebenfalls nicht handeln. Ich bin sicher, dass ich das gewusst hätte. Es fehlte jede Anschriftenangabe für die Kommission, ebenso eine Telefonnummer, unter dem man hätte nachfragen können. Die bibliografische Auskunft der Universitätsbibliothek vermochte ebenfalls nicht weiterzuhelfen. Habe ich noch nie gehört, sagte der Herr am anderen Ende der Leitung, finde ich auch in keinem Verzeichnis.

Wenn diese Literaturkommission niemandem bekannt und rein gar nichts über sie herauszufinden war, warum sollte ich dann der Aufforderung folgen, zu dem angegebenen Ort, es handelte sich übrigens um die Lehranstalt, die ich vom fünften bis zum zehnten Schuljahr besucht hatte, zu gehen? Woher wusste diese Kommission, dass ich einen Roman geschrieben hatte, den ich veröffentlichen wollte? Wie kamen diese Menschen an meine Anschrift? Eine Antwort gab vielleicht der Umstand, dass ich das Manuskript bereits mehreren Verlagen angeboten hatte. Zwei davon schickten es mir nach fünf Wochen zurück. Sie schrieben, dass sie keine Möglichkeit sahen, es im Rahmen ihres Verlagsprogramms zu veröffentlichen. Ein dritter Verlag demgegenüber zeigte sich begeistert, lobte den Roman, pries mein psychologisches Einfühlungsvermogen, wollte das Werk in zwei Bänden drucken lassen. Der Pferdefuß bestand allerdings darin, dass ich mich mit dreißigtausend Euro an der Publikation hätte beteiligen müssen. Was natürlich vollkommen ausgeschlossen war. Ich hatte das Geld nicht. Außerdem wollte ich mit dem Schreiben Geld verdienen.

Ich beschloss, die Aufforderung der Literaturkommission ernst zu nehmen. Ihre Mitglieder würden sicherlich in Kontakt mit den einzelnen Verlagen stehen, möglicherweise selbst Angehörige dieser Unternehmen sein, um sich für literarische Werke einzusetzen, die sich auf dem Markt als zu sperrig erwiesen, als dass sie einen unmittelbaren Verkaufserfolg garantierten. Vielleicht sprach die Kommission Empfehlungen aus, oder sie war in der Lage, aus eigenen finanziellen Mitteln oder über Förderkreise die Veröffentlichung eines Werkes zu ermöglichen. Andererseits fand ich auch den Gedanken nicht abwegig, dass es sich bei der Kommission um eine Einrichtung zur Reinhaltung des Marktes handeln könnte, die Autoren, die hartnäckig immer wieder versuchten, ihr Geschriebenes an den Verlag zu bringen, ermahnten, das doch endlich sein zu lassen, weil die Lektoren eh schon beschäftigt genug seien und sich nicht mit jedem Text, der litarischen Anspruch erhebe, befassen könnten. Die Literaturkommission als höchstrichterliches Amt der Literaturszene also.

Doch um einen Roman zu vernichten, vorausgesetzt, er hatte es in die Öffentlichkeit geschafft, genügte heute bereits der Verriss einer der bekannten Literaturkritiker, die häufig populärer waren und mehr gelesen wurden als die Schriftsteller. Und was die Lektoren anging: Setzten sie sich wirklich mit allem auseinander, was ihnen auf den Tisch kam, oder lasen sie nicht nur die erste und die letzte Seite eines Buches, etwas aus der Mitte, um schließlich das Manuskript auf den Haufen der anderen so „gewürdigten“ Erzeugnisse zu werfen?

Je mehr ich über all das nachdachte, umso merkwürdiger fand ich es, dass ich noch nie etwas über diese Literaturkommission gehört oder gelesen hatte. Auch die Freunde und Bekannten schüttelten nur mit dem Kopf. als ich sie mit dem Begriff konfrontierte. Gerade diese Umstände aber veranlassten mich, zur festgesetzten Stunde vor dem Haupteingang der Schule zu erscheinen, mein Manuskript abzugeben und zu warten. Die Neugier trieb mich. Ich wollte wissen, wer oder was sich hinter der Literaturkommission verbarg.

Es hatte ganz den Anschein, als ob ich wieder der Letzte sein würde, den man hereinbitten würde. Die Macht des Alphabets. Mein Familienname beginnt mit dem Buchstaben T. Da landet man in Ordnungsstrukturen, die auf Namen achtgeben, in der Regel ziemlich weit hinten. Was nicht immer von Nachteil sein muss. Hier hingegen empfand ich es so, denn seit mehr als sechs Stunden stand, saß, ging ich herum, die letzte Zigarette war geraucht, die mitgebrachte Zeitung ausgelesen. Es begann bereits zu dämmern, als ich endlich aufgerufen wurde.

In einem schmalen Raum standen sechs ältere Männer, die mich anblickten, ohne dass ich aus ihren Mienen eine besondere Begeisterung oder heftige Ablehnung meinem Text oder mir gegenüber hätte ablesen können. Niemand stellte sich vor.

Ihr Roman gefällt uns gut, sagte ein Mann, dessen imposanter Schädel nur an den Seiten noch ein paar schüttere Haarsträhnen zeigte.

Und?, wollte ich wissen.

Sie werden einen neuen Mythos kreieren, sprach ein anderer Mann, vollbärtig, dessen Erscheinung mich an den Filmemacher Steven Spielberg erinnerte.

Entschuldigen Sie bitte, aber was werde ich tun? Auf so etwas war ich nun wirklich nicht vorbereitet gewesen. Ich wollte ein Urteil über meinen Roman, eine Aussage darüber, ob es eine Möglichkeit gab, ihn auf Honorarbasis zu veröffentlichen.

Sie schreiben gut, junger Mann, sagte Steven Spielberg. Sie werden innerhalb eines halben Jahres einen neuen Roman schreiben. Sie fliegen deshalb am Wochenende nach Mallorca.

Das war zu viel. Das will ich nicht, sagte ich sofort, gegen einen mächtigen Lachanfall kämpfend. Diese Literaturkommission hatte wohl leicht die Bodenhaftung verloren. Nach Mallorca fliegen, innerhalb eines halben Jahres einen Roman schreiben, einen neuen Mythos kreieren. Was sollte dieses Gerede?

Was ist mit meinem Manuskript?, wollte ich wissen.

Das ist hier, erwiderte der Mann mit dem schütteren Haupthaar, wobei er eine Schranktür öffnete, das Manuskript herausholte und es in meine Arme legte. Hier ist Ihr Text. Er ist gut. Wir können nichts Anderes sagen.

Und? Was bedeutet das?, wollte ich wissen.

Der Mann zuckte mit den Schultern und schloss den Schrank wieder.

Das Gespräch war offenbar beendet, die Literaturkommission hatte ihre Arbeit getan.

Überlegen Sie es sich, riet mir der Mann, der aussah wie Steven Spielberg. Er dachte vermutlich „Drehbuch“, wenn er „Roman“ sagte, und wenn er von einem neuen Mythos redete, meinte er sicherlich einen solchen des Kinos.

Diese elende Warterei hatte sich nicht gelohnt. Ich hatte meine tausend Schreibmaschinenseite, die schwer in meinen Armen lagen, wieder in Händen, hatte immer noch nicht herausgefunden, um was es sich bei dieser Literaturkommission genau handelte - ich hatte einfach vergessen, zu fragen -, und rätselte, ob das ein ernstgemeintes Angebot gewesen war: ein halbes Jahr Mallorca, um einen neuen Roman zu schreiben.

In der Zwischenzeit war es dunkel geworden. Ich hatte noch einen langen Weg vor mir, musste ich doch das Dorf in seiner ganzen Länge durchqueren. Ich ging am Friedhof vorbei und an der Kirche, deren mächtiger Glockenturm in den Nachthimmel ragte. Kein Mensch hielt sich auf der Straße auf, alle hatten sich in ihre heimeligen Häuser und Wohnungen verkrochen an diesem Abend, an dem der erste Herbststurm über das Land fegen sollte. Ich fühlte mich einsam, traurig und leer. Als ich eine schmale, abschüssige Straße hinunterging, legte ich das Manuskript auf meine rechte Schulter, umgriff es mit dem Arm und der Hand, als ob ich einen Sack Mehl tragen würde. Die Seiten wogen schwer, und es drängte mich, endlich nachhause zu kommen.

Aber ich wusste nicht, wo das war: mein Zuhause.

 

Copyright 2023 Hubertus Tigges

Fragen

Was ist das nur, dieses Gefühl, dass das Leben geht, ohne eine Nachricht zu hinterlassen? Was soll das bedeuten, wenn sich Menschen verabschieden, die sich geliebt haben und nun ahnen, dass es kein Wiedersehen geben wird? Wie lässt es sich ertragen, wenn da nichts ist als ein Lufthauch, der durch das Zimmer irrt und kalt und kälter werdend Wangen streift? Wieso das scheinbar ewig Getrenntsein in einem Käfig, der Ich genannt zu werden beansprucht? Wieso das Beharren auf Eigenständigkeit und Vollständigkeit der eigenen Person, wenn da ein Anderer ist, der sich hineinschiebt in die Nische zwischen Seele und Geist und etwas mitbekommen will von der einst schützenden Eintracht?

Warum überhaupt?

Warum überhaupt Leben? Warum leben? Ist nicht ein Zustand denkbar, in dem mit einem Schnippen der Finger der irre Tanz des Weltenkörpers zum Stillstand gebracht wird? Aufhören, weil es die Notwendigkeit gebietet. Aufhören, weil der Höhepunkt seit Jahrhunderten schon überschritten ist und sich das trübe Einerlei immer wieder nur im Selbst gebiert?

 

Copyright 2022 Hubertus Tigges

 

Gefangen

 

Es ist ein großes Feld, eigentlich mehr ein Acker, braun die Erde, abgeerntet und gepflügt schon von Händen, die sich bemüht haben das ganze Jahr hindurch. Es hat geregnet am Tag zuvor, verschlossen ist der Himmel auch jetzt noch, am frühen Morgen. Nebel hängt in ihm und wabert über die braune Erde, wabert in undurchdringlichem Geflecht.

Er sieht sich wie hinter Glas. Er sieht sich, wie er inmitten der aufgeweichten Erde steht. Das ist er, der sich sieht. Aber da sind auch Menschen um ihn herum, Menschen, die ihn anstarren. Die Eltern erkennt er an den Gesichtern, die von Zeit zu Zeit hinter den Nebelschwaden sichtbar werden, dann aber wieder verschwinden und sich auflösen. Da sind auch Julius und seine Schwester Rebecca. Geliebte Rebecca, was schaust du mich an aus mandelförmigen Augen, groß und weit und traurig und voller Sehnsucht? Ich bin doch dein Bruder, denkt er, der da auf dem Feld steht im aufgeweichten Boden des Ackers, schmutzigbraun und nass. Doch er steht auch hinter der Scheibe aus Glas, die ihm den Durchblick erlaubt auf ihn, auf sich, und er, der da hinter der Scheibe steht, denkt sich eigentlich gar nichts dabei, schaut nur interessiert und harrend dessen, was auf ihn, der da steht im braunen Schlamm, nun zukommen wird.

Er erkennt noch andere Menschen, die ihm irgendwann einmal begegnet sind. Irgendwann einmal. Auch die Großeltern und dieser da, in der etwas altertümlichen Kleidung, ist das nicht sein Ur-, Ur-Großvater, so wie er ihn von vergilbten Fotografien her kennt? Er ist es wohl, denkt er, er auf dem Acker, sich im Kreise drehend. Und am Horizont, gerade hinter dem Wald, muss jetzt auch die Sonne aufgehen und den Nebel vertreiben mit mächtigen Strahlen, damit Klarheit geschaffen werde und er erkennen kann, wer alles um ihn herum sich eingestellt hat auf diesem gepflügten Acker zu unangemessener Stunde, am frühen Morgen und dazu noch im Dreck im vortägigen Regen, der alles aufgeweicht hat, dass sie sich ihre Füße schmutzig machen im tiefen Boden.

Da ist ja auch sie, erkennt er. Sie kann doch gar nicht hier sein, sie ist doch weit fort. Anwesend auch ihr …- was ist er nun: ihr Mann? ihr Freund? ihr Geliebter? Er hält sie fest im Arm. Nein, das darf er nicht, das durfte er nie, hatte überhaupt nie das Recht dazu, weil er sie wollte. Und dann sieht er, er hinter der Scheibe, wie er, er auf dem Acker, auf sie zugehen will, um sie zu trennen, sich zwischen sie zu schieben, aber es gelingt ihm nicht, sich frei zu machen aus dem Schlamm und dem Dreck zu seinen Füßen, die eingesunken sind bis auf die Knöchel. Er spannt die Muskeln an, versucht, einen Fuß herauszuziehen, zaghaft, es gelingt ihm auch, und nun bewegt er sich langsam, langsam, wie in einem ständig verzögerten Vorgang, auf eine der Personengruppen zu, die von Nebel umhüllt und manchmal ganz unsichtbar, dann wieder deutlich und klar zu erkennen sind. Wann steigt die Sonne denn nun?, fragt er sich. Sie muss doch jetzt endlich dort über den Baumwipfeln aufsteigen, und er zeigt in die Richtung, in die er den Osten und den Wald vermutet. Oder ist er etwa im Westen?, denkt er zweifelnd und schreit: Warum sagt mir niemand, wo die Sonne ist und wo der Wald und warum dieser Nebel nicht verschwindet und der Dreck und der Schmutz von meinen Füßen sich löst und ich auf euch zugehen kann, um euch zu begrüßen. Aber nichts ändert sich, erkennt er, er, der hinter der Glasscheibe sitzt.

Die Schwestern tauchen auf, Irmgard in ihrer plumpen Dickheit und Cecilie mit kleinen Brüsten unter grauem Gewand, das sich ausnimmt wie ein Büßerhemd an ihr, und Juliane, die verschämt auf den Boden schaut, in den Dreck, und die ihn nicht anzusehen wagt. Ihre Ehegatten, Hannes, stumm, Franz stumm, Johannes mit drei kleinen Löchern in der Brust, aus denen unaufhörlich Blut fließt, in den schmutzigen Boden tropft. Johannes schaut ihn an. Er ist doch tot, denkt er, dieser Mann, und doch blutet er aus Wunden, oder stirbt er gerade erst, muss er immerzu sterben als Strafe? Ich will gehen, aber ich kann nicht, ich stecke hier mit den Füßen im Schlamm und komme nicht los.

Aber die Mutter schaut ihn nur an aus tiefen braunen Augen, so braun wie die Augen Rebeccas, wie die seinen. Ich werde ihnen jetzt etwas zurufen, sagt er sich, dass sie verstehen, warum ich hier stehe im Morgengrauen und sie alle zusammengerufen habe. Da erkennt er auch den Großvater, den Vater seiner Mutter, der ihm Geschichten erzählt hatte von seinem Volk. Und die Frau an des Großvaters Seite, nein, die kannte er nun gar nicht. Wie dünn sie war! Und nackt! Ganz ausgemergelt, dass die Rippen unter ausgemergelter Haut herausstachen und die Knochen kein Fleisch mehr umgab und die Augen so tief in den Höhlen lagen, dass kaum ein Widerschein sie weckte. Nein, diese Frau kenne ich nicht, aber ich kenne Bilder von Menschen, die aussehen wie sie und …- doch da gab es noch eine weitere Gruppe ganz gespenstisch aussehender Männer und Frauen, einer mit einem Loch im Nacken, andere, deren Gliedmaßen ganz wirr und verstellt waren, gar nicht so, wie ein Mensch seine Arme und seine Beine nun einmal trägt. Furchtbar sahen diese Menschen aus, aber was verband sie denn mit ihm? Er schlug seine Hände vor das Gesicht, weil er nicht mehr sehen wollte, und er, der hinter der Scheibe aus Glas das alles erblickte, wollte sich auch abwenden, aber das ging nun einmal nicht, und so schaute er, wie der Nebel sich zu bewegen begann in einem von niemandem gerufenen Wind und sich verzog. Tränen rannen durch die Finger seiner Hand, die Menschen schauten ihn an, die Sonne erhob sich, und der Wald wurde sichtbar mit seinem gefräßigen Dunkel darinnen. Er nahm die Hände fort von seinem Gesicht und konnte plötzlich gehen, doch jetzt wollte er nicht mehr. Er stand nur und schaute in die Gesichter der Eltern und Geschwister, der Tanten und Onkel und Ahnen, die er nie gekannt und gesehen hatte von Angesicht zu Angesicht und der Menschen, die ihm fremd waren, deren grauenvolles Leiden nur aus Bildern zu ihm gesprochen hatte.

Alles war stumm. Keine Sonne, die rauschte, kein Baum, der tönte, keine Erde, die sich schmatzend unter Füßen bewegte, kein Vogel, der über ihre Köpfe flog, kein Wasser, das in Bächen quirlend und glucksend floss, nichts, was die Stille zerriss. Wüst. Leer. Wieso …? Doch konnte er die Frage nicht aussprechen, weil alle, die um ihn waren, sich fortbewegten auf ein geheimes Zeichen hin und gingen. Wohin denn nun?, dachte er, um gleichzeitig den Wunsch zu spüren, dass sie bleiben mochten, ihn nicht allein zu lassen in dieser fürchterlichen Stille des ersten und des letzten - des letzten? - Tages. Er streckte die Arme aus, wollte sie greifen, festhalten. Aber er erreichte sie nicht. Er bat mit flehender Gebärde, aber kein Wort kam über seine Lippen, die versiegelt schienen.

Alle verließen ihn auf einem Weg, der sich im Weiten verlor, und er bat stumm: Bleibt bitte! Lasst mich nicht allein! Aber sie gingen. Der Vater fasste die Mutter an der Hand, die sich zu ihm umwandte, und zog ein wenig, dass sie nicht säume. Julius trottete ihnen nach. Rebecca - bleib doch! Bleib! Doch sie ging, ließ die Spitze eines Schuhs über den Boden schleifen, schaute zurück über die Schulter, aber auch sie ging. Der Großvater, der ihm Geschichten erzählt hatte mit traurigem Gesicht, schloss sich an, die Frau, seine Frau, die gemordete, auf den Armen tragend, dahinter die mit Wunden schmerzhaft übersäten. Wohin auf diesem Weg? Und warum er allein?

Warum er allein?

Auch sie ging mit ihnen und mit ihm, und er wusste nicht zu lesen in ihrem Gesicht: Trauer? Teilnahmslosigkeit? Furcht? Sorge? Was war es genau? Unmöglich für ihn, zu erkennen, was sie empfand.

Dann brach Eiseskälte über das Land mit Frost und Schnee und ließ ihn erstarren über Monate und bitten, dass es wärmer würde. Und er, der hinter der Scheibe stand aus Glas, schaute, prüfte und verstand doch nicht.

Die Käte wurde abgelöst von unerträglicher Hitze, die dem Land alle Feuchtigkeit nahm und sie ausdörrte und unfruchtbar machte, auf das nicht mehr gesät und nicht mehr geerntet werden konnte. Er verdorrte wie die Gräser auf den Wiesen und die Zweige der Bäume, es mangelte ihm an Wasser, das seine Lippen netzte und seinen Durst löschen konnte.

Er aber, der hinter der Scheibe aus Glas stand, schaute und prüfte und verstand doch nichts von alldem.

Dann aber kam wieder der Nebel über das Land und der Regen, der den Acker tief machte und morastig, sodass seine Füße einsackten bis zu den Knöcheln. Er drehte sich im Kreis und fragte nach ihnen. Doch da war nur der Nebel, hinter dem sich keine Gesichter verbargen, die ihn kannten.

 

Copyright 2022 Hubertus Tigges

 

 

Und ich nahm die Hand des Engels

 

Und ich nahm die Hand des Engels. Komm und sieh!, forderte er mich auf. Dort ist dein Großvater, der gerade erfahren hat, dass sein Sohn, den er liebt, in einem russischen Kriegsgefangenenlager gestorben ist.

Ich sah. Ich sah den alten Mann, bitterlich weinend. Ich sah, wie seine Seele schrie. Ich sah den alles verzehrenden Schmerz meines Großvaters. Es ist so traurig, sagte ich leise zu dem Engel an meiner Seite, so über alle Maßen traurig. Ich begann zu weinen, weil mich das Leben meines Großvaters rührte bis in mein Innerstes. Es tut so weh, sagte ich zu dem Engel, so weh. Sanft legte er die Hand auf meine Schulter, aber ich konnte nicht aufhören zu weinen. Meinen Großvater weinen zu sehen, zerriss mir das Herz, und ich erkannte, dass sein Schmerz der meine war. Er tat mir unendlich leid.

Komm und sieh!, forderte mich der Engel mit sanfter Stimme auf. Ich sah meine Großmutter in der Küche unseres Hauses. Sie saß in ihrem Sessel und hatte das Gesicht in ihren großen Händen verborgen. Sie weiß es, flüsterte ich. Mein Großvater hat ihr noch nichts gesagt, aber sie weiß es. Sie wusste es jeden Tag, jede Stunde ihres Lebens, dass ihre drei Söhne nicht zurückkommen werden. Ich streckte eine Hand nach ihr aus und streichelte sanft ihr Gesicht. Warum?, fragte ich den Engel. Warum so viel Leid und so viel Schmerz?

Der Engel schaute mich an mit Augen voll des Mitgefühls und der Liebe, aber er schwieg.

Komm und sieh!, sagte er stattdessen. Ich sah meinen Vater. Er stand am Ufer der Ruhr und starrte auf das Wasser des Flusses. Ich trat ganz nah an ihn heran und blickte in sein Gesicht. Tränen, sagte ich zu dem Engel. Nie habe ich meinen Vater weinen sehen. Ja, sagte der Engel, er weint, weil es ihm nicht gelingt, deinem Bruder und dir ein Leben zu schenken, das frei ist von all den Schmerzen derer, die vor euch waren. Er weint, weil es ihm nicht gelingt, euch vor Konflikten zu bewahren, die in deiner Familie sind. Ich griff die Hand meines Vaters und sagte: Papa, es ist gut! Es ist alles gut! Da ließ sich mein Vater in das Gras der Uferböschung fallen und schrie gegen das Rauschen des Wassers des Flusses: Gott, warum nur? Warum? Ich zuckte zurück.

Komm und sieh!, sagte der Engel. Ich sah meine Mutter. Ich setzte mich zu ihr an den Küchentisch und blickte in ihr schmerzverzerrtes, gramvolles Gesicht. Sie wollte fort aus diesem Haus, in dem sie litt ohne Unterlass unter den Launen der Großeltern. Aber sie fand nicht die Kraft zu gehen, denn es gab mich und meinen Bruder. Und mein Vater wollte nicht fort, er hatte dieses Haus gebaut.

Der Engel führte mich weiter. Komm und sieh!, sagte er erneut zu mir. Ich sah den Vater meiner Mutter, umgeben von Schlamm und dem Blut zerfetzter Leiber. Dass habe ich erst so spät erfahren, sagte ich zu dem Engel. Ich wusste nicht, dass er die Hölle des Ersten Weltkrieges erdulden musste.

Komm und sieh!, sagte der Engel. Das ist deine Großmutter. Oh, Gott, nein!, stöhnte ich. Ich sah die Mutter meiner Mutter, ein lebloses Baby in ihren Armen, dass gestorben war, weil sich die Nabelschnur um ihren Hals gewunden hatte. Unablässig wiegte sich der Oberkörper meiner Großmutter über dem Kind. Und wieder schossen mir die Tränen in die Augen. Ich kniete mich nieder und sprach zu ihr: Es tut mir leid! So leid! Sie hört dich nicht, sagte der Engel. Ich aber legte mich auf den Boden und sprach: Ich will nicht mehr! Lass mich. Doch der Engel sagte: Komm und sieh! Da lag ein kleines Kind, vielleicht zwei Jahre alt. Es lag und weinte stumm. Unablässig quollen die Tränen aus seinen Augen, aber kein Laut kam aus seinem Mund. Oh nein, sagte ich und blickte den Engel an. Er ist soeben gestorben, sagte der Engel, er ist noch bei ihr. Ich sah einen jungen Mann auf der anderen Seite des Bettes, der voller Liebe und gleichzeitig voller Schmerz auf das Mädchen schaute. Er wird gehen, sagte der Engel, aber seine Seele ist noch nicht bereit. Dieses Kind ist deine Frau, sagte der Engel. Ich weiß, erwiderte ich, ich weiß es ja. Wieder kniete ich mich hin und legte dem Kind eine Hand auf die Wange. Der Mann schaute mich mit traurigen Augen an, dann nickte er mir zu. Ihre Seele ist ein einziger Schmerz, sagte ich zu dem Engel. Wie kann ich sie … heilen?, fragte ich leise. Wie kann ich all den Schmerz, all das Leid heilen?

Komm und sieh!, forderte der Engel mich auf. Ich sah Anna, meine Tochter. Aufmerksam schaute sie in das Buch, dass meine Frau ihr vorlas. Ich streckte meine Hand nach ihr aus. Als meine Finger ihre Wange berührten, schaute sie mich an. Kann sie mich sehen?, fragte ich leise. Sie spürt dich, ja, sagte der Engel. Dann, nach einigen Augenblicken, in denen wir dem Kind zusahen, sagte er: Liebe. Du heilst den Schmerz allein durch deine Liebe. Und durch Vergebung. Vergeben hast du. Nun liebe! Sei Liebe! Sei nichts anderes als Liebe. Heile mit der Liebe dessen, der nur Liebe ist. All dieser Schmerz ist in mir, sagte ich leise. Der Schmerz all dieser Menschen ist in mir. Ja, sagte der Engel. Setze Liebe an die Stelle des Schmerzes und ihr Leid wird mit dem deinen vergehen.

Komm und sieh!, forderte er mich erneut auf. Ich sah meinen Bruder, an einem Tisch sitzen, in einem Hotelzimmer irgendwo in Kanada. Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Warum weint er?, fragte ich den Engel. Er denkt an seine Großeltern und an seine Eltern, und er spürt ihren Schmerz wie du. Und er weint, weil er sich müht und müht und glaubt, ihm werde die Anerkennung verwehrt, die ihm gebührt.

Ja, sagte der Engel. Du kannst das alles loslassen. Jetzt. Deine Vorfahren wollen nicht, dass du unglücklich bist. Sie wollen, dass du die Fülle des Seins genießt. Sie freuen sich über deine Tochter. Und sie sind dankbar, dass du ihnen vergibst. Nichts wünschen sie sich so sehr, als dass du glücklich bist. Ein jeder: die Großeltern, die Eltern, dein Bruder, jeder, der vor dir war und mit dir ist. Sie schenken dir ihre Liebe und danken dir dafür, dass du sie als das erkennst, was sie sind: Liebe.

 

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