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Alice

 

Alice Müller raste mit ihrem silbergrauen Porsche über die Stadtautobahn, die Berlin in einem fast kreisrunden Bogen umschloss. Sie konnte sich noch daran erinnern, dass zwanzig Jahre zuvor links und rechts des grauen Bandes auf sattgrünen Wiesen Kühe grasten und gewaltige Mähdrescher auf Feldern das Getreide mähten. Das war einmal. Jetzt reihten sich graue Siedlungen Reihe an Reihe im Süden der Stadt. Alice Müller hatte Mühe, überhaupt einen einzelnen Baum auszumachen in dieser grauen Einöde, die trostlos wirkte, unendlich trostlos. In diesen Unterkünften hausten Tausende von Afrikanern, die die Hoffnung nach Berlin getrieben hatte, ihrem deprimierenden Dasein auf dem schwarzen Kontinent dadurch zu entkommen, dass sie sich nach Europa schleusen ließen. Doch was sie hier erwartete, war nur die Fortsetzung dessen, was sie auch in Afrika erlebt hatten: Armut, Perspektivlosigkeit, Gewalt.

 

„Nun zieh schon rüber, du Trottel!“, fluchte sie, als ein kleiner solarbetriebener Skoda nicht gleich auf die rechte Spur wechseln wollte. „Oh, Mist!“, fluchte Alice Müller, als sie ihren Wagen abrupt von 180 Stundenkilometer auf neunzig, achtzig, siebzig herunterbremsen musste, bis das dunkelhäutige Wesen in dem Winzfahrzeug vor ihr endlich erkannte, dass es die Spur blockierte. Für einen Augenblick verspürte Alice Müller den Wunsch, das kleine olivenfarbene Fahrzeug vor sich herzuschieben, doch dann hatte sie endlich wieder freie Bahn, und drückte das Gaspedal durch, den kläglichen Hupton ignorierend, mit dem der afrikanische Mann darauf aufmerksam machen wollte, dass er ihr Verhalten auf das Entschiedenste missbilligte.

 

Sie ignorierte den Abzweig „Zehlendorf“, schob den kleine Schmerz beiseite, der sie zwickte, schließlich hatte sie in diesem Berliner Bezirk ihre Kindheit verbracht, in einer riesigen Villa aus den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts, die so groß war, dass fünf afrikanische Großfamilien darin hätten Platz finden können. Vermutlich war auch gerade das mittlerweile geschehen. Wie sie dieses Haus geliebt hatte! Aber ihre Eltern hatten es schließlich satt, hinter einem übermannshohen Zaun zu leben, hinter dem zwei Rollen Stacheldraht lagen. Sie wollten sich nicht mehr von einem Dutzend schwer bewaffneter Männer schützen lassen, die verhindern sollten, dass die Einwanderer aus den Erdteil-Quartern, wie ihre Eltern das nannten, in ihr Haus eindrangen und alles mitnahmen, was zu Geld zu machen war. Und noch weniger wollten sie, dass ihre Kinder mit ansehen mussten, wie die grimmig ausschauenden Männer in den schwarzen Uniformen nicht davor zurückschreckten, die Eindringlinge zu töten. Tatsächlich war es einmal zu einem solchen grauenvollen Ereignis gekommen. Alice sah den Afrikaner immer noch vor sich: halb nackt, die magere Brust, aus der es unablässig blutete, aufgerissen von einer Maschinengewehrsalve, in der Hand ein altes rostiges Messer, das seine Finger im Tod noch umklammerten.

 

Es war die Zeit, als Africa-Town wie ein bösartiges Krebsgeschwür im Süden Berlins wucherte und wucherte und seine Ausläufer in die gutbürgerlichen Viertel der Stadt hineinwachsen ließ, Viertel, in denen die wohnten, die so wohlhabend waren, dass sie sich mit allen Mitteln gegen die Anmaßungen zur Wehr setzen konnten, die die ungehemmte Einwanderung mit sich brachte. Der tote Afrikaner hingegen markierte für Alices Eltern einen Wendepunkt. An einem Morgen im Frühsommer erklärten sie ihr: „Wir ziehen um! Hoch hinauf in den Norden des Landes, raus aus Berlin, du wirst sehen, es wird dir gefallen!“

 

Erneut blockierte ein Fahrzeug die linke Spur. Links und rechts der Autobahn ragten Schallschutzwände in den Nachmittagshimmel. Alice wusste, dass sie trotz dieser Wälle damit rechnen musste, dass irgendein Irrer die Fahrbahn zu Fuß überqueren wollte, ein absolutes Selbstmordunternehmen bei dieser Verkehrsdichte. Sie zog den Porsche auf die mittlere Spur, überholte den Kleinlastwagen, der ihr verdächtig nach einem „Bremser“ aussah, und jagte davon. Sie wollte raus aus Africa-Town und schalt sich dafür, dass sie diesen Weg gewählt hatte, obwohl sie wusste, welchen Gefahren sie sich aussetzte. „Bremser“ gehörten dazu. Sie sorgten dafür, dass der Verkehr zum Erliegen kam, damit sich Banden von Dieben über die Autos hermachen konnten, die nicht mehr vor oder zurückkonnten. Von Polizeifahrzeugen war natürlich nichts zu sehen. Die Tachonadel übersprang die 200- km/h-Markierung, und endlich hatte sie die Stadtgrenze hinter sich gelassen. Sie raste auf der linken Fahrspur, spürte die Kraft des Motors, und fühlte, wie die unangenehme Anspannung von ihr abfiel.

 

Nein, sie fuhr nicht mehr gern nach Berlin. Manchmal fragte sie sich, warum sie den Job nicht aufgab. Auf das Geld war sie nicht angewiesen. Sie hatte Freude am Schreiben, Spaß an der Recherche, und solange sie online mit der Redaktion kommunizieren konnte, war die Arbeit in Ordnung. Doch wenn sie „einbestellt“ wurde, von dem Chefredakteur auf die besondere Bedeutung eines Themas hingewiesen wurde, wenn sie dreihundert Kilometer fahren musste, um ein fünfzehn Minuten langes Gespräch zu führen, dann verging ihr die Lust an dieser Tätigkeit.

 

Ein, zwei Jahre zuvor war das noch anders gewesen. Da hatte sie sich gern in der Stadt aufgehalten, ja, ihre Serie über das kulturelle Leben in den Einwanderer-Quartern war sogar mit dem Berlin-Pen-Price ausgezeichnet worden. Im Augenblick jedoch widerte sie dieser dreißig Millionen Menschen zählende Moloch an. Alles war ihr zu laut, zu grell, zu hektisch, zu gefährlich. Vielleicht lag es auch am Alter, dachte sie, immerhin werde ich Ende des Monats dreißig. Die wilden Jahre sind vorbei, doch seltsamerweise empfand sie bei diesem Gedanken keinerlei Enttäuschung.

 

Nach einer Stunde Fahrt verließ Alice Müller die Autobahn, bog auf eine Landstraße ein und erreichte nach einer weiteren Stunde ihr Zuhause, ein altes Herrenhaus, das aufwändig und kostspielig renoviert worden war.

 

Auf ihrem Weg, der entlang abgeernteter Getreidefelder führte, vorbei an Wäldern, in denen malerisch kleine Seen verborgen lagen, hatte sie drei elektronische Schranken passiert, Sicherheitsgates, die verhindern sollten, dass Unbefugte in dieses Refugium eindringen konnten. Beim Durchfahren der Schranken hatte ein in ihr Wagen eingebautes Gerät einen Piepton abgegeben als Zeichen dafür, dass der Mechanismus funktionierte. In gewisser Hinsicht hatten die reichen Zehlendorfer Bürger ihren Lebensraum einfach um einige hundert Kilometer verlegt, hatten neue Häuser errichtet, alte renoviert und versucht, sich in dieser Umgebung, gut zweihundert Kilometer von Berlin entfernt, neu einzurichten. Aber auch diese Idylle musste gesichert werden, nicht durch Stacheldraht und meterhohe Mauern, sondern unauffälliger durch satellitengestützte Kameras, durch Sensoren, die nahezu unsichtbar an Bäumen oder im Straßenpflaster angebracht waren und in Minutenfrist dafür sorgten, dass die Polizei oder Angehörige eines privaten Sicherheitsdienstes vor Ort waren, wenn Gefahr drohte.

 

Alice Müller hatte schon oft darüber nachgedacht, von hier wegzuziehen, dorthin, wo sie ohne die Angst vor einen Überfall leben konnte, denn diese Sorge begleitete sie auch hier. Aber wo sollte das sein? In den Wäldern Kanadas? Was sollte sie dort? Im dürftigen Rest, der vom tropischen Regenwald übriggeblieben war? In der Wüste Nordafrikas, in denen die klimatischen Verhältnisse derart menschenfeindlich geworden waren, dass sich selbst die an Hitze gewöhnten Menschen, die seit Jahrhunderten diese Landstriche bewohnt hatten, nicht mehr dort aufhalten wollten? Nein, das war alles nichts für sie, und wenn sie sich doch in naturromantische Fantasien flüchtete, in denen sie sich in einer einfachen Hütte an einem See irgendwo in Kanada sah, dann reichte der Nachrichtenblock auf Eins Superplus, um ihr zu zeigen, dass die sichersten Orte auf diesem Planeten die waren, die durch Geld sicher zu machen waren.

 

Alice Müller wartete, bis die gusseisernen Tore, die den Hof von der Zufahrtsstraße trennten, geräuschlos zur Seite geglitten waren, um ihr Zugang zu gewähren. Am Eingang des Hauses standen vier große dänische Doggen, die zu ihr hinüberschauten. Sie ließ die Tiere immer frei laufen, wenn sie das Grundstück verließ, auch das eine Sicherheitsmaßnahme, denn die reinrassigen Tiere mit ihrem mächtigen Schädel würden ohne zu zögern über jeden herfallen, der unvorsichtigerweise versuchen sollte, in ihr Haus zu gelangen.

 

Bis auf das Vogelgezwitscher war es vollkommen still. Alice Müller brauchte eine Weile, um sich an diese Ruhe zu gewöhnen. Sie dachte an Eber, der in seiner riesigen Atelierwohnung am Alexanderplatz saß und vermutlich wieder damit beschäftigt war, gegen das Weiß einer Leinwand anzumalen. Ein Getriebener. Einer, der aus einer anderen Welt zu kommen schien, einer Welt, die Alice Müller nie kennen gelernt hatte, die so vergangen war, dass kaum noch jemand Interesse daran zu haben schien, auch noch darüber zu reden.

 

Die Deutsche Demokratische Republik.

 

Wen interessierte das? Warum sollte sie diesen achtzigjährigen Mann auf seinem Weg durch seine Vergangenheit begleiten? Die Reportage zu seinem Geburtstag war das eine. Dort galt es, auf einen der bedeutendsten deutschen Maler des vergangenen Jahrhunderts hinzuweisen. Doch wen würde sie für Geschichten aus der alten Frontstadt Berlin interessieren können, durch deren Mitte eine Mauer, ein „antifaschistischer Schutzwall“ gelaufen war, wie das damals bezeichnet wurde. Und wer, so fragte sie sich, wollte etwas aus dem Leipzig der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts erfahren? Alice Müller seufzte. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, sich in Ebers Atelier einschließen zu lassen, um den mit Gen-Nanos in Form gebrachten Achtzigjährigen – mein Gott, dachte Alice Müller: achtzig! – noch besser an die Angel zu kriegen.

 

Sie zog mit ihrer rechten Hand eine Nadel aus ihrem mühsam gebändigten welligen kastanienbraunen Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel. Das Licht der späten Abendsonne schien durch ein Fenster und ließ ihr ebenmäßig geformtes Gesicht erstrahlen. Die gerade Nase, der sinnliche Mund, die wachen, Intelligenz ausstrahlenden Augen harmonierten perfekt mit ihrem athletischen, aber dennoch sehr weiblichen Körper. Sie war sich der Ausstrahlung, die sie auf Männer ausübte, sehr wohl bewusst, aber sie fand an diesem Geschlechterspiel keinen Gefallen mehr. Dabei war es früher gerade dies gewesen, was sie an ihrer Arbeit so sehr fasziniert hatte. Ihre großen Reportagen über den Schriftsteller Marcel von der Übel, dem es gelungen war, der scheinbar so abgenutzten Form des Romans noch einmal ganz neue Fassetten abzugewinnen, über den Musiker Jan Janssen, dessen avantgardistische Sinfonien eine Zeit lang für Aufmerksamkeit gesorgt hatten, über den Maler Hans Selbstlos, dessen „Afrikanischer Zyklus“ im Verkauf aberwitzige Summen erzielt hatte, hatte sie nur schreiben können, weil diese Herren so vernarrt in sie waren, dass sie ihr Geschichten aus ihrem Leben erzählten, die sie, da war sich Alice Müller sicher, einem anderen Kollegen nie anvertraut hätten. Dabei war es gar nicht notwendig, mit ihnen ins Bett zu gehen, obwohl sie auch das getan hatte, es war vielmehr ihr anfängliches Auftreten als vermeintlich unerreichbare Muse, die die Informationen fließen ließen. Nein, es ging ihr nicht um das Geld, es ging ihr auch nicht um den Erfolg, die Anerkennung für ihre Arbeit – es ging ihr allein darum, zu beobachten, wie diese Herren die Kontrolle über sich verloren und einem irrationalen Taumel verfielen, der sie einerseits produktiv machte, sie aber andererseits, auch das hatte Alice Müller schon erlebt, abgrundtief in die Laster – zumeist war es der Alkohol – stürzen ließen, nachdem sie zu erkennen gegeben hatte, dass ihr an einer wie auch immer gearteten langfristigen Beziehung nicht lag.

 

Alice Müllers Interesse an Künstlern war eher von wissenschaftlicher Neugier geprägt. Künstler waren seltsame Wesen: intelligenter, sensibler, kreativer und bei Weitem schwieriger als der Rest der Bevölkerung, und es bereitete ihr Vergnügen, sie eine Zeit lang zu beobachten und zu begleiten. Aber das war es nicht allein. Es war spannend, das Reiz-Reaktionsmuster, das ihr Erscheinen bei den meisten männlichen Künstlern auslöste, im Übrigen auch bei den weiblichen, wenn sie Interesse an gleichgeschlechtlichen Beziehungen hatten, auszuloten und zu verfolgen, zu welchen Verhaltensweisen die Herren fähig waren.

 

Tatsächlich waren sie zu allem fähig!

 

Alice Müller fand es bedauerlich, dass sich ein Schriftsteller das Leben genommen hatte, nachdem sie ihm eröffnete, dass sie sich von Stund an nicht mehr sehen würden, weil es ihr ... – nun ja: zu langweilig mit ihm geworden war. Dass dieser Herr sich mit einem rasiermesserscharfen Samurei-Schwert entleibte, gab dem Exitus zwar noch etwas Exotisches, aber Alice Müller empfand weder Reue noch Schuld. Jeder Mensch, so fand sie, war für sein eigenes Leben verantwortlich, und wenn der eine der Auffassung war, dass es nun an der Zeit war, sich aufzuschlitzen, nun, dann sollte er das tun.

 

Ein anderer, es war Hans Selbstlos gewesen, hatte ihr Haus mit einer Lkw-Ladung roter Rosen eingedeckt, die er aus zwei Hubschraubern abwerfen ließ, um dann auf einem Band, das von einer Cessna gezogen wurde, zu verkünden: „Es war schön mit dir! Machs gut!“ Das, so fand Alice Müller, war ein gelungener Abschied, obwohl sie einen halben Tag damit zubrachte, die Rosen zu einem kleinen Berg zusammenzuschaufeln, und einen weiteren, diesen pflanzlichen Abfall auf einem Stoppelfeld zu verteilen, wo er langsam vermoderte, noch lange Zeit einen süßlichen Rosenduft verbreitend, der sie an den Maler erinnerte.

 

Ein dritter Künstler wurde von ihren dänischen Doggen durch den Wald gehetzt, nachdem er Tag für Tag versucht hatte, auf ihr Grundstück zu gelangen, um schließlich zu verkünden, dass er sie umbringen werde, wenn sie nicht endlich die Tür öffne. Das ging eindeutig zu weit. Die Tiere waren darauf abgerichtet, nur auf Befehl zu töten, und diesen hatte ihnen Alice Müller ausdrücklich nicht gegeben.

 

Sie glaubte nicht daran, dass Eber ihr ähnliche Probleme bereiten würde. Außerdem hatte sie genug Abenteuer erlebt, dass sie an einem weiteren interessiert war. Diesmal wollte sie sich darauf konzentrieren, ein Buch zu schreiben. Nur das. Nicht mehr und nicht weniger. „Der Mann ist achtzig!“, wiederholte sie, als sie die Haustür aufschloss, die Doggen hineinließ und zu dem Anrufbeantworter ging, der durch das unausgesetzte Blinken einer roten Lampe darauf hinwies, das jemand eine Nachricht hinterlassen hatte.

 

„Hallo, mein Liebling, melde dich doch mal, wenn du wieder zuhause bist.“ Die Stimme ihres Vaters, sehr dunkel, dennoch mit einem harten Akzent, alles andere als melodisch, eine Stimme, die keinen Widerspruch duldete, der es schwerfiel, sanfte Töne anzustimmen. Mit dieser Härte und Unnachgiebigkeit hatte er seine Geschäfte betrieben, bis er sich vor zwei Jahren zur Ruhe gesetzt hatte. Aber das Verhalten ihres Vaters mit diesem Begriff zu umschreiben, war der blanke Euphemismus. Ein Mann wie Alfons Müller setzte sich nicht zur Ruhe. Zu weitmaschig waren seine Kontakte, zu verlockend die Aussicht, hier und da Geld zu verdienen, noch mehr Geld und immer noch mehr, obwohl es gerade daran in seinem Leben nicht mangelte: Geld.

 

Mit zwanzig Jahren hatte er das Unternehmen seines Vaters übernommen, das Beleuchtungselemente für die Automobilindustrie fertigte. Das Hauptwerk hatte seinen Sitz in Westdeutschland, wie die Berliner während der Zeit des Kalten Krieges sagten, als der kleine städtische Vorposten des Kapitalismus von Kommunisten eingeschlossen war. Doch auch in Berlin gab es eine Produktionsstätte, die Alfons Müller Vater nicht aufgeben wollte. Der Sohn indes sah das anders. Nur wenige Wochen nach der Beerdigung seines Vaters verkaufte er „Müller Licht Berlin“, investierte einen Großteil des Geldes in den Bau einer neuen Produktionsstraße im Hauptwerk, das im Ruhrgebiet ansässig war, spekulierte mit einem immer noch recht großen Teil des Geldes, das er aus dem Verkauf bekommen hatte, höchst erfolgreich an der Börse, erwarb Immobilien, knüpfte Kontakte und schien fortan nur von einem Wunsch beseelt zu sein: seinen Reichtum zu mehren. Hatte ihm anfangs aufgrund seines Alters niemand zugetraut, ein so großes Unternehmen wie die „Müller Licht AG“ zu führen, so verstummten binnen kürzester Zeit all die Kritiker, die dem jungen Mann auf dem Chefsessel nicht viel Vertrauen entgegengebracht hatten. Wie andere Menschen ein künstlerisches Talent mit in die Welt bringen, so besaß Alfons Müller die unnachahmliche Gabe, unternehmerisch erfolgreich zu sein. Er verfügte über Weitblick, hatte ein Gespür für die Notwendigkeit der Entwicklung neuer Produkte, war risikobereit und verstand es, die Börse für sich arbeiten zu lassen.

 

Als zum Ende des zweiten Jahrtausends eine ganz neue Branche – gern als New Economy bezeichnet – die Börsen in Aufruhr versetzte, gelang es Müller innerhalb kürzester Zeit, seinen Reichtum nicht nur zu verdoppeln oder zu verdreifachen, nein: Er potenzierte ihn geradezu! Dabei war er so klug, all diese Luftpapiere, die ihren Wert innerhalb von Wochenfristen verzehnt-, verhundertfachten, rechtzeitig zu verkaufen, bevor die Spekulationsblase mit einem lauten Knall platzte, und Milliardenwerte unwiederbringlich vernichtet wurden.

 

Nicht jedoch die Alfons Müllers. Der hatte wieder einmal die Nase im Wind gehabt und benutzte nun das Geld, das auf seinen Konten lag oder weltweit an den Börsen arbeitete, um in die unterschiedlichsten Unternehmungen zu investieren.

 

Alice zweifelte nicht eine Minute daran, dass sich unter den Milliarden chinesischer RMBs auch schmutziges Geld befand, Geld, dass ihr Vater mit Geschäften gemacht hatte, von denen sie nichts wissen wollte.

 

Natürlich war den Kollegen bei der Zeitung klar, wer ihr Vater war. Als sie ihre Arbeit dort begann, hatte sie die Befürchtung, dass sich der ein oder andere an ihre Fersen heften würde, um auf diese Weise Einblick in das Müller-Imperium zu gewinnen. Aber tatsächlich war das nie geschehen. Ja, es hatte nicht einmal eine Andeutung auf ihre Herkunft gegeben. Dies wiederum fand sie so eigentümlich, dass sie ihren Vater gefragt hatte, ob er irgendeinen Einfluss auf „Kunst damals und heute“ habe. „Kunst?“, hatte der nur gesagt, „nein, ist definitiv nicht mein Metier.“

 

Geglaubt hatte sie ihm das nicht. Ja, sie war fest davon überzeugt, dass er sich sehr wohl in die Belange der Zeitung einmischte, zumindest wenn es um die Frage ging, warum Frau Alice Müller Reportagen über Künstler schrieb und nicht die Millionen ihres Herrn Papa medienwirksam unter die Leute brachte.

 

Alice Müller schloss die Augen. Wie ruhig es hier war! Beinahe bereute sie es, dieses Eber-Projekt auf den Weg gebracht zu haben. Wozu?

 

Das war die schlimmste aller Fragen: Wozu? Diese Frage brachte sie in ein ungünstiges Fahrwasser. Sie raubte ihre Autonomie. Sie führte sie geradewegs in das Unternehmen ihres Vaters, der eh nur darauf zu warten schien, dass sie diese „Schreiberei“, wie er ihre Arbeit abfällig zu kennzeichnen pflegte, trotz der vielen Erfolge, die sie mit ihren Texten hatte, trotz der Auszeichnungen und der Würdigung ihres Talents, an den Nagel hängte und sich um das kümmerte, was er aufgebaut hatte.

 

Warum eigentlich nicht?, fragte sie sich.

 

„Oh, Alice!“, schalt sie sich selbst. „Was ist nur los mit dir?“

 

Sie hatte immer um ihre Unabhängigkeit kämpfen müssen. Das war schwierig. Und einfach. Denn die Gefahr eines Absturzes in finanzielle Not hatte nie bestanden. Ihr Vater hatte ihr immer zur Seite gestanden. Sie durfte tun und lassen, was sie wollte. Fast alles. „Du bist zu intelligent, um wirklich Unsinn zu machen“, hatte ihr Vater zu ihr gesagt.

 

Unsinn. Was sollte das sein? Sich bekiffen? Trinken bis zum Umfallen? Sich mit harten Jungs abgeben? Den Vater in der Öffentlichkeit bloßstellen und einer sensationslüsternen Presse zeigen, was für ein Luder die Tochter von „Milliarden-Müller“ war?

 

Nein, dergleichen war ihr nie in den Sinn gekommen. In diese Hinsicht hatte ihr Vater Recht: Sie fand Vergnügungen dieser Art einfach zu fade. Nicht einmal in ihrer Pubertät hatte sie sich für so etwas interessiert. Sie sah auch nicht die Notwendigkeit, gegen ihren Vater zu opponieren, gegen seinen Reichtum zu wettern, denn sie profitierte schließlich davon, in jeder Hinsicht. Ihre Schulausbildung war exzellent gewesen, das Studium der Kommunikationswissenschaften an einer privaten Universität schloss sie nach sieben Semestern ab, in den Ferien machte sie Praktika bei verschiedenen Zeitungen, meist in den Kulturredaktionen. Ihre Leidenschaft galt der Literatur, der Malerei, der Musik, und wenn ihr Vater etwas an ihrem Leben auszusetzen hatte, dann war es ohne Zweifel diese Begeisterung für das Künstlerische, der scheinbar ein vollkommenes Desinteresse für alle Fragen, die mit dem Unternehmen in Zusammenhang standen, zur Seite gestellt war.

 

Sie war das einzige Kind aus einer Ehe ihres Vaters mit einer Frau, an die sie sich kaum erinnern konnte, denn ihre Mutter starb, als sie gerade einmal drei Jahre alt war. Ihr Vater hatte nie wieder geheiratet, ja, Alice konnte sich nicht entsinnen, jemals eine andere Frau in ihrer riesigen Villa gesehen zu haben. Immer saß sie mit ihrem Vater allein am Esstisch, etwas Existenzielles vermissend, etwas, was ihre Mutter gewesen war, etwas, was durch nichts auf der Welt zu ersetzen war. Wenn sie versuchte, sich an diese Zeit zu erinnern, an diese Monate, in der die Wärme und Aufmerksamkeit ihrer Mutter aus ihrem Leben verschwanden, dann spürte sie eine tiefe Traurigkeit, ja, eine Verzweiflung, die ihr nachhing und sie immer wieder packte. Vielleicht war das der Grund, warum sie sich so frühzeitig für die Kunst zu interessieren begann: um der Leere, die der Tod ihrer Mutter hinterlassen hatte, zu begegnen. Um diesen Raum zu füllen mit Farben, Klängen, Gedanken. Sie suchte die Hand ihrer Mutter, die ihr zärtlich über die Haare strich, suchte ihren Herzschlag, wenn sie an ihrer Brust lag, suchte ihr Lachen, wenn sie mit ihr durch den Garten tobte. Sie suchte all das in dem Widerhall der Werke der klassischen Musik, ja, in einzelnen Noten, in denen sie zu erkennen glaubte, was sie in diesen Jahren erlebt hatte. „Auszuschließen ist das natürlich nicht“, hatte ein befreundeter Psychologe zu ihr gesagt. „Wir suchen unser Leben lang nach Resonanzen aus der schönsten Zeit unseres Daseins, der Kindheit, in der wir behütet waren, geliebt, einfach, weil wir waren. Diese Resonanzen, die an die Mutter oder den Vater erinnern, kann es überall geben, natürlich auch in der Musik.“ Sie suchte es in den Bildern der Meister abendländischer Malerei, stand gebannt vor den Darstellungen Marias und des Christuskindes und weinte angesichts dieser tiefen, innigen Verbundenheit zwischen Mutter und Kind, einer Verbundenheit, die sie einmal selbst erfahren hatte, aber es schienen Jahrhunderte vergangen zu sein inzwischen.

 

Ihre Mutter war Liebe, Geborgenheit, Zuversicht, Heiterkeit, sie war das Lachen, das sie als Kind gehört hatte, ein ausgelassenes, fröhliches Lachen, das zu plötzlich aus ihrem Leben verschwunden war.

 

Sie hatte es nicht verstanden, dieses Totsein der Mutter. Sie war drei. Es war zu groß, dieses Ereignis, zu schmerzhaft in seinem eindringlichen Konstantsein: dem Fehlen von einem Menschen, der gestern noch da war und heute nicht mehr. Wie sollte sie das begreifen?

 

Ihr Vater hatte alles versucht, ihr Leben so angenehm wie nur möglich zu gestalten. Doch die Traurigkeit, in die er versank, ergriff auch von ihr Besitz – oder war es ihre Traurigkeit, die sich seiner bemächtigte? -, und es schienen ihr endlos lange Monate zu vergehen, bis diese unfassbare Leere, die der Tod ihrer Mutter in ihnen hinterlassen hatte, sich mit etwas zu füllen begann, das schlicht und einfach ihr Leben war, die Erfordernisse, die es an sie stellte, all die vielen alltäglichen Verrichtungen, die Aufmerksamkeit erforderten, auch wenn sie nicht wusste, warum sie diese Anforderungen erfüllen sollte.

 

Das Leben.

 

Ihr Vater verließ jeden Morgen das Haus, nachdem er sich vor ihr hingekniet, ihre kleinen Hände in die seinen genommen und gesagt hatte: „Ich wünsche dir einen schönen Tag, meine Liebe!“ Dann hatte er ihr einen Kuss auf die Wange gegeben und war gegangen. In das Unternehmen, das er leitete. So viel wusste sie. Dass er ein wichtiger Mann war, der viel Verantwortung hatte und sehr, sehr viel Geld verdiente. Sie blieb allein in dem großen Haus, das heißt nicht ganz allein, denn immerhin gab es da noch eine Köchin, ein Kindermädchen, mit dem sie spazieren ging, einen Gärtner. Oft saß sie vor einer Fotografie, die ihre schöne Mama, ihren Papa und sie zeigte, ausgelassen und heiter. Wo bist du, Mama?, fragte sie dann leise. Wo bist du nur?

 

Wenn sie an diese Zeit dachte, erinnerte sie sich ihrer als ein scheinbar graues Einerlei, freudlos, farblos, klanglos.

 

Später, als sie Tag für Tag am Morgen in einem großen Auto zur Schule gebracht wurde, um am frühen Nachmittag wieder abgeholt zu werden, begann der Schmerz und die Traurigkeit all den Neuigkeiten zu weichen, die sie nun von ihren Lehrern erfuhr. Und aus dem schier unendlichen Reich der Bücher, das sich ihrem hungrigen Geist öffnete und in dem sie Stunde um Stunde umherzuwandern begann.

 

Sonntags verbrachte sie den ganzen Tag mit ihrem Vater, der ihr all seine Aufmerksamkeit schenkte. Im Sommer und im Winter fuhren sie gemeinsam in Urlaub, im Juli oder August häufig nach Italien oder Frankreich, im Dezember in die Schweizer Alpen zum Skilaufen.

 

Alice wuchs heran, und während die Frau auf dem Foto ihrer täglich gestellten Frage: Wo bist du?, keine Antwort geben wollte, entdeckte Alice diese selbst: Ihre Mutter war nirgendwo anders als in ihr. Sie lebte in ihrem Herzen, sie lebte in ihrer Seele, und dort würde sie immer leben, immer. Es war so einfach. Und so schwer. Ihr Vater redete oft und ausgiebig über ihre Mutter, und so machte er sie für Alice lebendig, formte aus seinen Erinnerungen das Leben einer Frau, die er so sehr geliebt hatte, dass er nach ihrem Tod schwor, nie wieder mit einer anderen zusammenzuleben.

 

Alice hatte an dem Tag Frieden mit der Tatsache gefunden, dass ihre Mutter tot war, als sie erkannte, dass ihre Mutter in ihr weiterlebte, und dass sie nie tot sein würde, solange sie sich ihrer erinnerte. Die bleischwere Traurigkeit, die so lange an ihr gehangen hatte, war von ihr abgefallen, und das Leben begann, sich intensiver, ja, heiterer zu entfalten. Mit ihrer Heiterkeit schien auch der leidvolle Ausdruck in den Augen ihres Vaters mehr und mehr zu schwinden. „Du bist genau wie deine Mutter“, sagte er zu ihr. „Ich weiß nicht, ob ich ohne dich die schwere Zeit nach ihrem Tod überstanden hätte.“

 

Das hättest du, sagte sie zu ihm. Ich weiß, wie sehr du Mutter geliebt hast.

 

Die Kunst, die sie so früh für sich entdeckt hatte, blieb das Reich, in dem sie sich am wohlsten fühlte. Sie hatte kaum Freunde, weder in der Schule noch auf der Universität. Es machte ihr nichts aus. Sie las, dachte nach und die größten Verwerfungen, die die Pubertät, vor der ihr Vater sich fürchtete, mit sich brachte, bestanden in der Faszination, die ausgerechnet der Sozialismus auf sie ausübte, jenes nicht einmal mehr auf Kuba praktizierten Gesellschaftsmodells, das mit dem Ende der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts abgewirtschaftet hatte und sich dem kapitalistischen Gegenentwurf beugen musste. Alice schwärmte für die Idee der Zerschlagung aller Produktionsmittel und der Umwandlung von Unternehmen in volkseigenen Besitz. Sie berichtete ihrem Vater schon beim Frühstück von den Ideen Karl Marx und Friedrich Engels, war elektrisiert von der Sprachgewalt des Kommunistischen Manifestes, arbeitete sich durch den ersten Band des Kapitals und war der festen Überzeugung, dass sie binnen eines Jahres in Südamerika sein würde, um die Ärmsten der Armen davon zu überzeugen, dass sie gegen ihre Peiniger aufstehen, dass sie die Großgrundbesitzer von ihrem Land vertreiben mussten, um sich von diesem bitteren Los zu befreien. Warum es gerade Südamerika sein musste, konnte sie auch nicht so recht sagen, vermutlich war es das jesusgleiche Antlitz Che Guevaras, den sie fasziniert betrachtete, nachdem sie am Morgen die Augen aufgeschlagen hatte, hing sein Konterfei doch als Poster an der Wand am Fußende ihres Bettes.

 

Sie war sich sehr wohl bewusst, dass ihre Lebenswirklichkeit mit dem Leben im Sozialismus nicht allzu viel zu tun hatte, und war ihrem Vater insgeheim dankbar, dass er sie nicht darauf verwies, dass eine kommunistische Kämpferin eigentlich nicht mit einem S-Klasse-Mercedes zur Schule gefahren werden sollte.

 

Ja, ihr Vater war ihr gegenüber ein geduldiger Mann, aber sie machte es ihm auch nicht schwer. Sie diskutierten, manchmal hitzig, doch in der Regel sachlich und konstruktiv über den Gegensatz von Kapitalismus und Kommunismus, wobei ihr Vater bestrebt war, ihr die Lateinamerika-Idee auszureden. Sie solle erst einmal studieren, wenn sie dann immer noch gegen Fazeinderos kämpfen wolle, dann sollte es eben so sein. Natürlich hegte ihr Vater die Hoffnung, dass ein fortgeschrittenes Lebensalter und eine neue Umgebung den Spuk sozialistischen Gedankengutes aus dem Kopf seiner Tochter vertreiben würden. Und ein netter Freund, obwohl er fand, dass das noch Zeit hatte. Er wollte sie nicht verlieren, wollte nicht auf ihre Gegenwart verzichten am Morgen, wenn sie über eine kurze Zeitungsnotiz begannen, die Ungerechtigkeiten in der Welt zu beklagen, wollte sie am Abend am Esstisch sitzen sehen, wenn er nachhause kam. Diese Zeit würde schon bald vorbei sein, natürlich, aber Müller fragte sich, wie er mit diesem erneuten Abschiednehmen umgehen sollte.

 

In einem Punkt hatte er sich nicht getäuscht: Ihre Begeisterung für ein Leben im Dickicht des südamerikanischen Amazonas, von dessen undurchdringlichen Regenwäldern allerdings auch nicht mehr viel übriggeblieben war, für ihren heldenhaften Kampf gegen das Großkapital und skrupellose Unternehmer, die dafür verantwortlich waren, dass die indigene Bevölkerung des Amazonas ihres Lebensraumes beraubt war, war einer nüchternen Einschätzung ihrer Lebenssituation gewichen. Sie war die Tochter eines der reichsten Männer Europas, und sie fand in sich keine Veranlassung mehr, sich gegen diese Tatsache zu wehren. Vor allem aber teilte sie mir ihrem Vater die Erinnerung an einen fundamentalen Schmerz, und sie fühlte sich mit ihren zwanzig Jahren so erwachsen, dass sie ihre Schwärmereien für den bewaffneten Aufstand der Armen und Entrechteten kaum mehr nachvollziehen konnte. Nicht, dass sie die Armut und Ungerechtigkeit nicht empörte, aber es war ihr offenbar nicht vorbestimmt, die Freiheitskämpferin zu geben in diesem Leben.

 

Dennoch schrieb sie sich nicht in Volkswirtschaftslehre ein, sondern in Kommunikationswissenschaft und Allgemeiner und Vergleichender Literaturwissenschaft. Ebenso wie sie die Träume des vierzehn, fünfzehn Jahre alten Mädchens, das Teil der Weltrevolution sein wollte, begrub, so war sie sich doch auch im Klaren darüber, dass sie nicht die Nachfolgerin ihres Vaters werden wollte. Sie besaß nur ein mäßiges Interesse für die Fragen, die ihren Vater Tag für Tag beschäftigten, sie interessierte sich für die Kantaten Johann Sebastian Bachs und die Malerei Michelangelos, sie begeisterte sich ebenso für expressionistische Lyrik wie für die Romane Thomas Manns.

 

Alles, was mit Kunst zu tun hatte, faszinierte sie. Sie ging ins Kino, zu Konzerten, liebte es, der Aufführung einer Beethoven-Sinfonie durch die Philharmoniker zu lauschen, aber auch, sich bei einem Rockkonzert zu verausgaben. Sie verschlang ein Buch nach dem anderen, verbrachte Stunde um Stunde in der Bibliothek und fand sich bei all dem in völliger Übereinstimmung mit sich selbst. Sie kultivierte mit ihren Interessen keine neuerliche Protesthaltung gegen ihren Vater, nein, es waren ihre ureigensten Neigungen, denen sie nachging, nachgehen wollte.

 

Sie war eine strahlend schöne junge Frau. Sie war groß gewachsen, das ungebändigte lange Haar flog wie eine Löwenmähne um ihren Kopf, und sie war sich der Wirkung, die sie sowohl auf die männlichen Studenten als auch auf die Professoren ausübte, bewusst. Sie war neugierig auf diese Welt, aber sie wollte nichts überstürzen, nicht mit dem Ersten, der ihr gefiel, ins Bett fallen, nein, da musste noch etwas hinzukommen. Liebe? Ja, vielleicht Liebe, dachte sie, obwohl von diesem Begriff auch eine Beschränkung ausging, die Vorstellung, sich absolut auf jemanden einzulassen, um dann doch – enttäuscht zu werden. Auch wenn der andere es nicht wollte, vielleicht kam es dem Schicksal in den Sinn, ihn mit Krankheit zu schlagen. Und Tod. Den geliebten Menschen von ihrer Seite zu reißen, ihn nicht mehr – lachen zu hören. So hatte es, das Schicksal, sie und ihre Mutter getrennt, hatte der absoluten und bedingungslosen Liebe, die sie empfunden hatte, den Gegenstand entzogen und ihre unbedingte Zuneigung fortan ins Leere laufen lassen.

 

Außerdem fragte sie sich immer wieder, ob die Männer sie meinten, wenn sie mit ihr ausgehen wollten, oder nicht doch das Geld ihres Vaters. Dieser Gedanke verunsicherte sie. Natürlich wäre es der einfachste Weg gewesen, all diese Bedenken auszuräumen, indem sie sich einfach auf eine Beziehung einließ. Doch sie ließ es vorläufig. Die Avancen indes, die ihr von dem einen oder anderen Professor entgegengebracht wurden, stießen sie ab. Was glaubten diese Herren, wer sie waren, dass sie Studentinnen abschleppen zu können meinten?

 

Sie verbrachte die Wochenenden zuhause in der riesigen Villa, gemeinsam mit ihrem Vater. Dieses Haus entstammte einer anderen Epoche, einer Zeit, in der die Industriellen darauf aufmerksam machen mussten, dass sie die Herren, die Herrschenden waren, die in der bürgerlichen Gesellschaft den Ton angaben. Stahlbaron – so nannte man Krupp nicht ohne Grund. Alice Großvater war auch so ein Patriarch gewesen, dem die Zurschaustellung seines Wohlstandes wichtig gewesen war. Aber noch bedeutender war die Absicht gewesen, in diesem Haus viele, viele Kinder herumwuseln zu sehen. Doch daraus war nichts geworden. Alices Vater war der einzige Nachkomme gewesen, der in dem riesigen Haus ihrer Großeltern herumtobte, und sie, Alice, war die Letzte in der Reihe der Müllers. Dazu noch eine, die sich nicht für das Unternehmen interessierte. Ob das ihren Vater nicht interessierte? Oder täuschte sie sich? Wartete er darauf, dass sie heiratete und einen Sohn in die Welt setzte, der vielleicht die Eigenschaften besaß, die ihr fehlten?

 

Gedankenverloren tätschelte Alice Müller den Kopf eines der Hunde. Sie würde ihren Vater morgen anrufen, so eilig konnte es nicht sein. Noch immer blinkte die rote Lampe an dem Anrufbeantworter.