Buchbesprechung Ich, Roland Eber! Lebenssatt ...

Lieber Hubertus Tigges,  27. November 2012

 

Ihr Manuskript habe ich mit Freude und Spannung gelesen, gut, dass Sie diese Geschichte aufgeschrieben haben. Ich würde sie gerne gedruckt sehen. Sie haben Thema und Problemkomplexe gewählt, die den Nerv der Zeit treffen – für die, die heute den Ton angeben, aber unbequem sind. Dabei ist Ihnen ein interessanter Ansatz für das Erzählen gelungen: Von der Zukunft aus auf die vielen Lesern noch bekannte Vergangenheit zurückzublicken, schafft einen weiten abwägenden Blick, sind doch die Tendenzen einer nicht allzu fernliegenden Zukunft bereits heute erkennbar und beunruhigen viele.


Ich lese nicht mehr viele neu erscheinende Romane, sie interessieren mich nicht, weichen meist mit der Ich-Bezogenheit des Dargestellten den lebensbedrohenden Problemen heute aus oder wiederholen nur das, was die DDR-Vergangenheit in den Schatten stellt und verhindert, zu vergleichen, abzuwägen und weiterhin – wie es 1945, nach Faschismus und Krieg, begonnen hatte – nach Alternativen zu einem Gesellschaftsmodell zu suchen, das Faschismus und Krieg hervorgebracht hatte. Ihr Manuskript geht einen anderen Weg.

 

Mit Ihren beiden Hauptfiguren haben Sie einen glücklichen Ausgangspunkt für das Erzählen gefunden. Eine junge Journalistin, Tochter eines millionenschweren Unternehmers, aufgewachsen in der alten BRD, befragt um 2030 einen alten achtzigjährigen Maler, will sein Leben in der DDR kennen lernen – und konkrete Lebenserfahrungen des einen treffen auf „sicheres Wissen“ über einen untergegangenen Staat der anderen. Das schafft erzählend eine Gesprächssituation. Vorgefasste Meinungen über die DDR – vor allem die Urteile „Diktatur“ und „Unfreiheit“ – werden konfrontiert mit detaillierten Fakten wirklich „gelebten Lebens“. Der Leser wird mit einbezogen in das gegenseitige Fragen und Antworten, in das Suchen nach einem Sinn für die eigene Existenz heute, muss versuchen, aus dem Für und Wider sich ein eigenes Urteil zu bilden. Das ist, soweit ich das beurteilen kann, neu in unserer gegenwärtigen Romanliteratur und bedeutsam, vor allem deshalb, weil es Ihnen gelingt, „wie nebenbei“ aus der Gesprächssituation zwei lebenssprühende Persönlichkeiten herauswachsen zu lassen. Die Zuständigkeiten werden umgedreht: Der Maler wird von einem echten Erzähler porträtiert. Gefallen haben mir die Gespräche über das Besondere der Kunst: Nicht umsonst hat Thomas Mann beim Erzählen Pate gestanden.

 

Die beiden parallel laufenden Erzählfäden mit den Geschichten über den Farbigen Romm und seine in Argentinien aufgewachsene Nazi-Großmutter und über den „Suchenden“ ergänzen das entstehende Gesellschaftsbild, geben dem Erzählten besondere Brisanz (wobei der Zufall der aktuellen Nazi-Morde die zunächst erstaunlich wirkende Geschichte Romms in ein glaubhaftes, nachdenklich machendes Licht rückt).“

 

Mit herzlichen Grüßen

 

Sigrid Bock

 

Sigrid Bock, geboren 1930, ist emeritierte Professorin für Germanistik. Sie arbeitete an der Akademie der Wissenschaften der DDR. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit galt der Deutschen Literatur des Exils, der nicht-faschistischen Literatur in Deutschland zwischen 1933 und 1945, der Literatur in der DDR und der Antikriegsliteratur seit 1918. Von 1970 bis 1979 gab Sigrid Bock die publizistischen und theoretischen Schriften von Anna Seghers in vier Bänden heraus: »Über Kunst und Wirklichkeit«.

 

Sigrid Bock veröffentlichte 2008 im Dietz Verlag Berlin ihr Buch „Der Weg führt nach St. Barbara: Die Verwandlung der Netty Reiling in Anna Seghers“.