Cover zu "Abendland-Morgenland"

Beispiel für eine Biografie

 

Prolog zu: Deutschland hüben, Deutschland drüben

 

Es ist mehr als nur das Folgeleisten der Aufforderung des Fotografen: „Bitte lächeln!“ Es ist viel mehr! Aus den Augen der Braut funkeln Freude und Lebenslust, hellwach blicken sie, der Mund ist zu einem Lächeln leicht geöffnet, und es ist, als ob in ihr eine gespannte Erregung lebt, die es ihr nur mit Mühe erlaubt stillzustehen, jetzt, damit der Augenblick festgehalten werden kann.

 

Das Brautkleid hüllt sie ein in Weiß, die Schleppe ist vor ihr ausgebreitet. Ihre behandschuhten Finger halten einen Blumenstrauß.

 

Dem Mann an ihrer Seite, dem sie heute ihr Ja-Wort gegeben hat, gelingt das Lächeln nicht ganz so leicht. Aus dem scharf geschnittenen Gesicht blicken Augen, die, wie viele seiner Generation, schon so viel Leid gesehen haben, dass es die Spontaneität des augenblicklichen Glücksempfindens vielleicht nicht mehr geben kann. Der Bräutigam steht etwas hinter der Braut, trägt einen eleganten schwarzen Frack, eine weiße Fliege um den Hals. In der Linken hält er den Zylinder, und auf dem Finger steckt der Ring, dem sie ihm übergestreift hat.

 

An diesem Tag, dem 16. Oktober 1948, gaben sich Margot Kuhnert und Werner Köhler das Ja-Wort. Margot war 21 Jahre alt, Werner 24. Geboren und aufgewachsen in der Weimarer Republik und der Zeit des Nationalsozialismus, erlebten sie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges den Aufbau und das Bestehen des ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden, der für die meisten nach dem schrecklichen Krieg ein Neuanfang war. Es ist dies nicht der letzte politische Umbruch, an dem sie teilhaben mussten, der mehr mit ihnen geschah, als dass sie ihn geschehen ließen: Mit der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten 1989 lebten sie nun in einem demokratisch verfassten kapitalistischen Gesellschaftssystem, das die Strukturen der Deutschen Demokratischen Republik gründlich umgestaltet hat.

 

Doch das ist Zukunft, die die beiden Brautleute zu diesem Zeitpunkt nicht berührt, nicht berühren kann. Für sie zählte an diesem Tag nur die Gegenwart, nur dieser Augenblick. Und ihren Gesichtern spiegelte sich die Zuversicht: Das Kommende wird gelingen, wird gut sein. Weil wir es wollen und die Kraft haben, es zu gestalten!

 

Neujahrsnacht

Wie sah der Himmel aus in jener Nacht vom 31. Dezember 1927 auf den 1. Januar 1928?

 

Flog eine Feuerwerksrakete zischend durch die kalte Luft, um farbig vergehende Sterne ins Dunkle zu zaubern? Oder hat ein lautes Getöse von explodierenden Knallkörpern um Mitternacht den Jahreswechsel begleitet? Kaum.

 

Nicht einmal das Schlagen der Kirchenglocken aus dem Dorf wird hier unten an den Bahngleisen zu hören gewesen sein. Denn auf der westlichen Seite des Hauses ragte dichter Tannen- und Mischwald die Anhöhe hinauf, und nach Osten hin lagen die Ruhrwiesen. Andere Häuser in unmittelbarer Nachbarschaft gab es nicht.

 

Die Kinder, bisher sind es drei, schliefen, bis das Geschrei der Mutter sie weckte. Die Temperaturen lagen zwischen minus zwanzig und minus fünfundzwanzig Grad. Im Licht des Mondes glitzerte Raureif an den Innenwänden der Schlafstuben, die nicht geheizt waren. In ihnen stand kein Ofen, wohlige Wärme zu verbreiten. Es war kalt, eisig kalt.

 

Wer wollte in dieser Nacht ein Kind in die Welt setzen?

 

Es war ihr Viertes, und wieder wurde es ein Junge. Sie kamen in steter Folge, Jahr für Jahr. Die Menschen waren arm, doch der Religion, die ihrem Leben Sinn und Mitte geben sollte, war das egal. Nach Echthausen in die Kirche ging die Frau nicht zum Beichten, der Priester machte ihr Angst. Doch in Werl sprach im Beichtstuhl der Pfaffe auf ihre bange Frage, ob es denn nun nicht bald genug sei mit dem Kinderkriegen: „Ja, ja, wo drei sind, da können auch viere, fünfe, sechse sein.“

 

Sie, Theresia Maatz, eine gottesfürchtige, dem katholischen Glauben dienende Frau, geboren am 9.5.1898 in Hüsten, gebar am 9.5.1924 ihren ersten Sohn. Ignatz Wilhelm nannten sie ihn. Etwas länger als ein Jahr war sie damals mit dem Oberbahnwärter Friedrich Tigges, geboren am 1. Februar 1896 in Echthausen, verheiratet. Ignatz also, der Erstgeborene, der den Zusatznamen Wilhelm nach seinem Großvater bekam.

 

Ein Jahr später schon, am 1. Juni 1925, wurde Hubertus Antonius Tigges geboren. Ihm folgte am 14. Februar 1926 Siegfried Klemens. Drei Söhne. Und nun das vierte Kind. Bei dem es nicht blieb. Theresia Tigges, geborene Maatz, wurde aus diesem Kreislauf nicht entlassen. Bis zum Jahr 1935 wird sie noch vier weitere Kinder gebären: am 13. September 1929 ein Mädchen, Agatha Theresia. Am 18. Juni 1931 wurde Maria Theresia geboren, am 14. Februar Edmund Wilhelm und schließlich ebenfalls am 14. Februar des Jahres 1935 Walburga Ida. Acht. Wären die ersten drei in der Geburtenfolge Mädchen gewesen, viel Leid und Schmerz wäre der Familie erspart geblieben.

 

Nun dieser Sohn in eisiger Nacht. Die Küche war beheizt, die Hebamme anwesend, um dem Kind auf die Welt zu helfen. Alle Jungen und Mädchen wurden zuhause geboren. Ein Krankenhaus war fern und außerdem gar nicht zu erreichen, weil kein Transportmittel zur Verfügung stand. Auf dem Kohleofen kochte das Wasser und ließ die Luft feucht werden. Der Geruch von Schweine- und Kuhdung durchzog die Zimmer, denn zwischen der Küche und dem Stall lag nur die Diele. Zwei Kühe und vier Schweine gehörten zum Haus. Wenn es einen Geruch gab, der den Jungen, den es in dieser winterkalten Nacht in die Welt drängte, später an seine Kindheit erinnert, dann eben diesen: den die Zimmer des Hauses durchziehenden Gestank nach Kühen und Schweinen.

 

Fließendes Wasser gab es nicht. Mit einer Handpumpe wurde die Flüssigkeit metertief aus der Erde hinaufbefördert. Petroleumlampen sorgten für Licht, denn Elektrizität fehlte.

 

„Im Winter, da gab es ja noch keine Wasserspülung. Da wurde einfach ein Brett zurechtgehauen mit einem Loch drin, da konntest du sitzen. Und im Winter, wenn alles gefroren war, da sahst du, wie der Kackhaufen immer größer wurde. Und wenn er zu hoch kam, dann nahm unser Vater einen Stock … - prock! und weggeschlagen.“ (Alois)

 

Um ein Uhr zwanzig in der Nacht wurde Alois Tigges in dem Bahnwärterhaus unweit der Ruhr geboren. Das kleine schreiende Wesen wurde mit kaltem Pumpenwasser abgewaschen. So war der erste Lebenseindruck, den es empfing: Kälte. Aus dem warmen Mutterleib in eisige Kälte. Ein Temperatursturz geradezu von dreißig Grad. Bläulich-rot der kleine Mensch. Seine drei Brüder lauschten, eng aneinandergekuschelt in einem Bett, um, sich gegenseitig Wärme gebend, der Kälte zu trotzen, dem Schreien der Mutter und dem des Neugeborenen. Bis alle dann spät in der Nacht zur Ruhe fanden. Am Neujahrsmorgen des Jahres 1928. Dem ersten Tag im Leben Alois Tigges. Willkommen.