Copyright Hubertus Tigges 2015

 

Altarbild

Er stand vor der Staffelei, den Pinsel in der Hand, und in dem Weiß, das ihm höhnisch entgegenlachte, erkannte er tausendundeine Szene, die er mit ihr erlebt hatte. Kalte Schauer jagten ihm über den Rücken und immer wieder begann er, hemmungslos zu weinen. Dann, manchmal verging eine Stunde, setzte er den ersten Pinselstrich, dann den zweiten, schmiss die Farbe auf die Leinwand, vollkommen im Ungewissen darüber, was er da eigentlich hervorbringen wollte. Er hatte keine Bildidee im Kopf, nicht einmal eine vage Vorstellung von dem, was er malen wollte, aber der erste Strich in roter Farbe löste in seinem Hirn eine Folgereaktion aus, etwas musste jetzt geschehen, etwas Blaues oder Grünes, etwas differenzierter Gestaltetes, Konzentration auf den Corpus, seine Proportionen, das lenkte ab, drängte die Trauer zurück, auch wenn das nur scheinbar für den Bruchteil einer Sekunde geschah, aber es geschah.

 

Er kümmerte sich nicht um die Kommilitonen um ihn her, und seine Professoren, die von der Tragik der Geschehnisse wussten, ließen ihn arbeiten. Vieles von dem, was er in dieser Zeit malte, war reine Therapiearbeit. Er betrachtete es nicht als Kunst, ja, er betrachtete es gar nicht mehr, stellte es in eine Ecke des Arbeitsraumes, breitete ein Tuch darüber, signierte es nicht, hatte es schon am anderen Tag wieder vergessen. Dann, nach etwa einem halben Jahr, hatte der harte Panzer, hinter dem sein Schmerz verkapselt war, Risse bekommen. An diesem Tag, es war ein brütend heißer Julitag, die Temperaturen in den Arbeitsräumen der Hochschule waren so hoch, dass es die meisten Studenten vorzogen, schon gegen Mittag ihre Pinsel auszuwaschen und den Rest des Tages damit zu verbringen, auf der Wiese zu liegen oder im Biergarten zu sitzen, packte er seine Trauer über den Tod seiner Frau und malte ohne Unterlass bis gegen Mitternacht. Es waren fünf Bilder, die er geschaffen hatte in dieser Zeit, Ausdruck tiefsten Leids und tiefsten Schmerzes. Es war ein Altarbild, so hatte er die Leinwände geordnet, dass eine Kreuzigungsszene in ihren Mittelpunkt stellte. Eber hatte die Drastik der Kreuzigung Jesu in so düsteren Farben dargestellt, das Leiden dieses Menschen, dem unterarmlange Nägel durch die Füße und die Knie getrieben worden waren, mit so intensiver Drastik ausgearbeitet, dass am anderen Morgen die Studenten offenen Mundes vor dem standen, was Eber in der Nacht zurückgelassen hatte. Ja, das war er, er Eber, der von Schmerz und Pein zerrissen wurde, der mit einem Leid leben musste, wie es ein Mensch kaum ertragen konnte, der seinen Gott verfluchte, der ihn so leiden ließ. Es war zu viel, zu viel, es war einfach nicht mehr auszuhalten, dieses Leid, er konnte nicht mehr. Sollte er doch sterben, es war ihm egal, vollkommen gleichgültig.

 

Doch in den links und rechts stehenden vier weiteren Bildern, je zwei auf jeder Seite – die üblicherweise für Altarbilder gewählten drei Flächen waren ihm zu wenig, daher wählte er fünf – ging das nicht zu ertragende Schmerzhafte in das Hellere über, in etwas Gnadenvolleres, in ein Mysterium, das er nicht begriff und verstand, dem er nur auf diese Weise Ausdruck geben konnte. Es war nicht die Auferstehung, die er malte, nein, das ging nicht, er wählte vier Szenen aus dem Leben des Gekreuzigten, die ihn als Lebenden, eben als das, darstellten: einen wütenden Jesus, der die Geldwechsler aus dem Tempel vertrieb, einen sinnenfrohen Menschen, der sich mit einer Frau vergnügte, einen anderen, der in aufgeregtem Disput mit einem der Jünger verwickelt war und schließlich einen Jesus, der ein Kind an der Hand führte.

 

All diese Darstellungen führten ihn fort von dem Motiv des Gekreuzigten, das er zuerst gemalt hatte. Sie führten ihn zurück, zurück ins Leben, und als er die Pinsel schließlich fallen ließ, gegen Mitternacht, glitt er erschöpft zu Boden und betrachtete das, was er geschaffen hatte. Dann verließ er die Hochschule, ging zurück in seine kleine Wohnung, schlief bis in die späten Vormittagsstunden und stellte fest, dass die grauenhafte Verzweiflung über den Verlust seiner Frau, die ihn so lange Zeit begleitet hatte, gegangen war. Das Dunkle, dass von jeder Zelle seines Körpers Besitz ergriffen zu haben schien, an ihm lastete wie Bleikugeln, all sein Denken und Handeln bestimmte, war nicht mehr. Seine ersten Gedanken an diesem Morgen galten seiner lieben Frau, es waren Gedanken der Trauer und der Liebe, aber er wusste, dass sie wollte, dass er weiterlebte, dass er stritt, sein Kind an die Hand nahm, dass er malte, ja, dass er ins Leben zurückfand durch eine und mit einer anderen Frau. Sie wollte es, er war sich dessen vollkommen bewusst. Sie wollte, dass er lebte, dass das unendliche Leiden der zurückliegenden Monate endlich ein Ende hatte, dass seiner Kreuzigung eine Auferstehung folgte.

 

Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel, und es ging auf Mittag zu. Er hatte keine Lust, zur Hochschule zu gehen. Stattdessen nahm er sein Rad und fuhr ziellos durch die Stadt. Er sah. Zum ersten Mal seit Monaten war er wieder fähig zu sehen, zu hören, zu riechen, die Eindrücke an sich heranzulassen und sie zu empfangen, das Leben zu empfangen als das, was er war in jedem Augenblick.

 

Bist du da, mein Schatz?, fragte er immer wieder leise in sich hinein. Siehst du all das, was ich sehe? Ich lasse meine Augen für dich schauen. Bist du da?

 

Ja, sie war da, sie würde immer da sein. Dieses wunderschöne geliebte Mädchen, das er in der kleinen Wohnung im Prenzlauer Berg dutzendfach gemalt hatte, die Frau, die weinend am Kasernentor stand und wieder ging, ohne zu ihm zu kommen, die über alles geliebte Frau seines Kindes. Ich liebe dich, flüsterte er, während er die Sonne in seinem Gesicht spürte. Ich liebe dich über alles, mein Schatz!

 

Als er am darauf folgenden Tag die Hochschule betrat, standen die Bilder immer noch so, wie er sie in der Nacht dort hingestellt hatte. Seine Arbeit traf ihn unvorbereitet und mit voller Wucht: Die Darstellung des gekreuzigten Jesus war so eindringlich und quälend, dass ihm ein Schmerzensschrei entfuhr. Er trat einen Schritt näher, bemerkte nicht, wie Giese neben ihm stand und erschrak, als dieser ihn ansprach: „Na, wie geht es Ihnen, Eber!“ Er blickte seinen Professor aus tief liegenden Augen an: „Besser, glaube ich, ja, besser.“

 

„Außerordentlich“, sagte Giese und wies auf die Bilder. „Wirklich außerordentlich“, wiederholte er, klopfte Eber kurz auf die Schulter und ging davon.

 

Eber indes setzte sich auf einen Stuhl und betrachtete das, was er geschaffen hatte. Immer wieder begann er leise zu weinen, aber der Schmerz, den er jetzt empfand, war fein, wie eine dünne Schnur, die ihn mit seiner geliebten Frau verband. Immer verbinden würde.

 

Er wusste nicht, was er mit den Bildern anstellen sollte. Sie waren großformatig und damit nicht in seiner Wohnung unterzubringen. Er war sich auch nicht sicher, ob er sie tatsächlich Tag für Tag bei sich, um sich haben wollte. Er fragte Giese, ob er die Bilder zunächst in der Hochschule lassen könnte. „Natürlich“, sagte er, „lassen Sie sie erst einmal an Ort und Stelle.“