Neal Stephenson: Amalthea

Vor langer, langer Zeit ließ Gott sehr viel Wasser vom Himmel regnen, so erzählt es die Bibel, um die sündige Menschheit zu bestrafen. Nur einer baute eine Arche, brachte von jedem Tier, das auf der Erde lebte, ein Paar unter und wartete darauf, dass sich das Wasser zurückzog, um einen neuen Anfang zu wagen, der aber, die Geschichte ist bekannt, ebenfalls reichlich – und dauerhaft - misslang.

 

Einige Jahrtausende später ereilt den Menschen und aller Kreatur auf der Erde das gleiche Geschick, d. h., nicht durch Wasser, sondern durch glühend heißes Feuer, das vom Himmel fällt, ereignet sich die vollkommene Vernichtung. Naja …- beinah. Von einem Gott allerdings, der das alles initiiert hat, weiß der Autor nichts zu berichten. Aber vielleicht hatte er den Psalm 97 im Sinn, in dem es heißt: (…) Feuer läuft vor ihm her/ringsum verzehrt es seine Gegner./Seine Blitze erhellen den Erdkreis, /die Erde sieht es mit Beben./Wie Wachs schmelzen vor dem Herrn die Berge,/vor dem Antlitz des Herrschers der ganzen Erde. (…) Oder noch deutlicher in Psalm 21: Deine Hand trifft all deine Feinde,/deine Rechte trifft, die dich hassen. (Du lässt sie glühen wie einen feurigen Ofen/im Augenblick deines Erscheinens./-Der Herr verschlingt sie in seinem Zorn, es verzehrt sie das Feuer.-/Du wirst ihre Brut von der Erde vertilgen) (...)

 

Stellen Sie sich vor, Sie schauen in einer sternenklaren Nacht zum Mond hinauf, der dort als helle, leuchtende Scheibe in der Dunkelheit hängt. Und plötzlich bricht der Erdtrabant auseinander, in vier, fünf, sechs sieben Stücke … Nein, Sie träumen nicht. Es geschieht tatsächlich!

 

Was für ein Ende! Für alles und jeden auf dem Planeten Erde! Endzeit. Das Ende der Zeit, wie sie Menschen gekannt haben. Das Ende des bekannten Raumes. Das Ende von allem. Von fast allem.

 

 

 

Der US-amerikanische Autor Neal Stephenson, 1959 in Maryland geboren, konstruiert in dem in der deutschen Ausgabe 1050 Seiten umfassenden Roman „Amalthea“, der in der Originalausgabe „Seveneves“ heißt, eine interessante Versuchsanordnung: Der Mond zerbirst, „ohne Vorwarnung und ohne erkennbaren Grund“ (9).

 

Über die Ursache der Explosion gibt es keine verlässliche Auskunft. Die einen behaupten, es handelte sich um den Einschlag eines Asteroiden, der den Mond zertrümmerte. Andere mutmaßen, Außerirdische hätten vor langer Zeit einen Sprengsatz deponiert. Wie auch immer – der Mond zerfällt in sieben große und viele kleinere Stücke. Doch dabei bleibt es nicht. Die Brocken kollidieren miteinander, zerbrechen, einige fallen zur Erde. Der Prozess setzt sich fort, bis sich Billionen von Trümmern gebildet haben, die als weiße Wolke sichtbar ist. Die Erde wird einem Meteoriten-Beschuss ausgesetzt. Dabei entsteht eine solche Hitze, dass alles auf dem Planeten in Brand gesetzt wird. Dies geschieht zwei Jahre nach der Explosion des Mondes, und die Wissenschaftler schätzen, dass der „Harte Regen“ zwischen fünf- und zehntausend Jahre andauern wird. Nichts und niemand, so die Mutmaßung, kann dieser Apokalypse entkommen. Nicht auf der Erde. Aber die Internationale Raumstation ISS mit einer Besatzung von zwölf Personen umkreist in einer Höhe von vierhundert Kilometern den Planeten. Ein fußballplatzgroßer Asteroid, der den Namen Amalthea trägt, ist an einem Ende der Raumstation befestigt. Fünf Jahre zuvor war der Brocken von Satelliten eingefangen worden. Amalthea ist für ein „Asteroidenbergbau-Forschungsprojekt“ vorgesehen. Verantwortlich für dieses Projekt ist eine der Frauen an Bord, Dinah MacQuarie, die mit ihrem Vater auf der Erde per Morsealphabet kommuniziert.

 

Dr. Dubois Jerome Xavier Harris ist einer der Wissenschaftler auf der Erde, die die Konsequenzen, die das Zerbrechen des Erdtrabanten mit sich bringt, zu eruieren versuchen. Sein Fazit: „Es wird zu einem Meteoriten-Bombardement kommen, wie es die Erde seit Urzeiten (…) nicht mehr gesehen hat“, sagte Doob. „Diese Feuerspuren, die wir in letzter Zeit am Himmel sehen, wenn die Meteoriten herunterkommen und verglühen? Davon wird es so viele geben, dass sie zu einer einzigen Feuerkuppel verschmelzen, die alles unter sich in Brand setzen wird. Auf der gesamten Erdoberfläche wird es keinerlei Leben mehr geben. Gletscher werden kochen. Die einzige Möglichkeit zu überleben, ist, von der Atmosphäre wegzukommen. Unter die Erde oder ins All zu gehen.“ (43)

 

Unter die Erde oder ins All. Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Zwei Jahre bleiben, bis der Feuersturm sieben Milliarden Menschen, alle Tiere, alle Pflanzen töten wird. Bis dahin sollen so viele junge Männer und Frauen wie möglich ins All befördert werden. Aber was heißt das: so viele wie möglich? Es gibt ein globales Auswahlverfahren, in dem jedes Dorf, jede Stadt zwei junge Menschen auswählt, die eine Ausbildung für die Aufnahme in die Weltraumarche durchlaufen sollen. Eingefrorene Spermien, Eizellen und Embryonen sollen ebenfalls ins All gebracht werden, damit eine neue Zivilisation aufgebaut werden kann, irgendwie, irgendwo, irgendwann.

 

Der Konsens in der Welt-Gemeinschaft in Bezug auf das, was getan werden muss, ist groß. Stephenson beschreibt keine Ausbrüche von Gewalt oder Panik, kein globales Auseinanderfallen sozialer Strukturen angesichts des Unausweichlichen. Ein beliebter Topos in der Darstellung von Endzeitlichkeit findet auch in diesem Roman Anwendung: Angesichts einer alles Leben bedrohenden Gefahr von außen vergessen die Staaten, die Religionen, die Ideologien ihr Trennendes und besinnen sich auf das, was allen gemeinsam ist: Mensch-Sein. Sie rücken zusammen und versuchen, gemeinsam etwas gegen die Bedrohung zu unternehmen. Nur gibt es in dieser besonderen Situation kein Szenario, dass die Zivilisationen vor dem Unausweichlichen retten wird. Es ist lediglich möglich, mit den wenigen Auserwählten Relikte mit ins Weltall zu nehmen, um von dem zu künden, was untergehen wird. Zweifel sind angebracht ob der Ruhe vor dem Endzeit-Sturm. Wenn Sozietäten schon wegen geringerer Störungen von außen kollabieren und sich radikalisieren, ist bei der im Roman dargestellten Gefahr eines Weltenbrandes eher von einem kollektiven Nervenzusammenbruch auszugehen als von einem Gefasstsein in vollkommener Rationalität: Das Ende naht, es naht das Ende. Was ist zu tun? Ruhig bleiben und dafür sorgen, dass die Gattung weiter existiert im Weltenraum.

 

Eine Ausnahme jedoch gibt es, als die venezolanische Regierung beschließt, den Weltraumbahnhof in Französisch-Guayana anzugreifen. Die amerikanische Regierung sieht darin eine massive Gefährdung des laufenden Projektes, so viele Menschen wie möglich in den Weltraum zu bringen und beantwortet die Intervention Venezuelas mit einem Atombombenschlag.

 

Ansonsten jedoch herrscht ein globaler Fatalismus angesichts des Unausweichlichen. Kann das sein? Verhalten sich Menschen so in einer Situation, in der es vermeintlich keinen Ausweg mehr gibt? Diese Perspektive interessiert Stephenson nicht wirklich. Oder nur am Rande, indem er schildert, wie sich Dr. Harris just an dem Tag, an dem die Erdbevölkerung von den versammelten Regierungschefs über ihr unausweichliches Schicksal aufgeklärt wird, verliebt. Diese Liebe kann keine Dauer haben, auch seine drei Kinder aus erster Ehe werden sterben. Ein emotionaler Overkill, von dem die Menschen überall auf dem Planeten heimgesucht werden. Doch Stephenson gelingt es nicht, diesen menschlichen Aspekt angemessen zu würdigen und – darzustellen. Das berührt nicht, bleibt seltsam distanziert, so, als ob es den Autor nicht wirklich bewegt.

 

Der Unternehmer Sean Probst, der sich, nachdem er sieben Milliarden Dollar mit einem Internet-Unternehmen verdient hat, nun mit Asteroidenbergbau beschäftigt, sagt in einem Gespräch mit der Kommandantin der ISS, die anmerkt: „Aber die Welt wird nicht von Wissenschaftler und Ingenieuren regiert – willst du darauf hinaus?“

 

Sean drehte die Handflächen nach oben und zuckte theatralisch mit den Achseln: „Ich kann nicht gut mit Menschen. Das höre ich immer wieder. Manche, die gut mit Menschen können, konzentrieren sich lieber auf diese Perspektive.“

 

„Die Menschen-Perspektive“, sagte Konrad, „nur zur Klarstellung.“

 

„Ja. Die Sieben-Milliarden-Menschen-Perspektive. Sieben Milliarden, die bis zum Ende bei Laune und gefügig gehalten werden müssen. Wie macht man das? Was ist die beste Methode, ein verängstigtes Kind zu beruhigen, es wieder zum Einschlafen zu bringen? Man erzählt ihm eine Geschichte. Irgendeinen Scheiß über Jesus oder sonst was.“ (159)

 

Ohne Zweifel ist das die Stimme des Autors. Manchmal wirkt „Amalthea“ so, als ob das Setting Stephenson die Gelegenheit gäbe, seine Vorliebe für Raumfahrt- und Robotertechnik darstellend auszuleben. Allein: Es wird keine mitreißende Erzählung daraus.

 

So richtet er seine Aufmerksamkeit auf das Geschehen im All, beschreibt in sehr sachlicher Form den Ausbau der ISS. An diesen Stellen wird es ermüdend. Wie und auf welche Weise weitere Rohre, Kabel und Kabinen an die Station und um sie herum aufgebaut werden, was unter den besonderen Bedingungen des Weltalls dabei zu beachten ist, welche Schwierigkeiten auftreten, wie „Triaden“ und „Heptaden“ konstruiert werden – all diese Darstellungen nehmen Seite um Seite in Anspruch und zeigen ohne Frage den großen Kenntnisreichtum des Autors – den ich als Leser nicht teile. Doch die detaillierten Informationen, die Stephenson ausbreitet, muten oft an wie ein Text aus einem Sachbuch über die Raumfahrt. Natürlich können Sachinformationen einen erzählenden Text bereichern, aber in „Amalthea“ werden sie zum Selbstzweck, weisen einerseits auf die Stärken des Autors, andererseits auf seine erzählerischen Schwächen hin.

 

Rakete um Rakete steigt in den folgenden Monaten auf, um Menschen und Material in den Orbit zu bringen. Um die Weltraumstation herum werden weitere Röhren, Gitter und Archen angebracht, um die Kandidaten, die das Überleben der Spezies garantieren sollen, aufzunehmen.

 

Siebenhundert Tage nach Auseinanderbrechen des Mondes leben eintausendzweihundertsechsundsiebzig Menschen in der Konstruktion, die rund um die ISS entstanden ist. Wenige Tage später beginnt der „Harte Regen“ zu fallen. Ein Entkommen vor dieser Apokalypse scheint unmöglich. Dinah MacQuarie hat bis zuletzt Morsekontakt zu ihrem Vater, der sich mit einigen Freunden, Familienmitgliedern und Partnern offenbar unter die Erdoberfläche zurückziehen will, während der Kommandant eines US-amerikanischen Atom-U-Bootes, der Verlobte der mittlerweile abgelösten Kommandantin Ivy, in einen atlantischen Tiefseegraben abtaucht, um dem Untergang zu entgehen. Welche Überlebenschancen haben diese Menschen, wenn sich der kosmische Sturm über fünftausend Jahre austoben wird?

 

Ausgerechnet der US-amerikanischen Präsidentin ist es noch gelungen, zu dem Gebilde zu gelangen, dass in den vergangenen zwei Jahren seit Auseinanderbrechen des Mondes im All entstanden ist. Die Anwesenheit der Politikerin indes führt zu vermehrten Spannungen zwischen der Stammbesatzung und den so genannten „Archis“, denen also, die die Existenz der Gattung Mensch außerhalb der Erde garantieren sollen. Doch auch die Raumstation ist von umherfliegenden Gesteinsbrocken bedroht, sodass die Notwendigkeit besteht, die gesamte Konstruktion in Sicherheit zu bringen, und zwar in die Spalte eines der großen, metallreichen Teile des Mondkerns, genannt Kluft. Um dorthin zu gelangen, bedarf es Energie. Einige Monate zuvor hat sich Sean Probst, Besitzer einer Asteroidenbergbaugesellschaft, in einem eigenen Raumschiff in die Tiefen des Universums begeben, um einen drei Kilometer großen Kometen zur Arche zu bringen, der über ausreichend Wasser verfügt, um den Sprung nach Kluft durchzuführen. Es gelingt tatsächlich, einen Teil des Asteroiden aus der Tiefe des Universums mithilfe eines Atomreaktors, der auf der Eisfläche des Asteroiden befestigt ist, zur ISS zu schaffen. In der Raumstation kommt es zwischenzeitlich zu einem Zerwürfnis: Die ehemalige US-amerikanische Präsidentin favorisiert einen Flug zum Mars, um dort zu sieden, anstatt Sicherheit in der Kluft zu suchen. Etwa achthundert Menschen machen sich davon, während 400 auf Izzy verbleiben. Doch der „große Sprung“ in Richtung Kluft verläuft sehr langsam. Drei Jahre vergehen. Immer mehr Menschen sterben, die einen durch Selbstmord, andere infolge von Krebserkrankungen, zu denen es wegen der hohen Weltraumstrahlung in vermehrter Zahl kommt. Doch auch in der Gruppe derer, die sich zum Mars aufgemacht hatten, gibt es viele Todesfälle. Ein Teil der Abtrünnigen rebelliert. Die Nahrungsmittelreserven sind aufgebraucht. Es kommt zu Kannibalismus. Als die Marsianer schließlich wieder Kontakt mit dem Mutterschiff aufnehmen, erklärt die Anführerin der Rebellion, dass es lediglich elf Überlebende gibt. Als diese sich wieder an Bord der ISS begeben, kommt es erneut zum Kampf, den die Mitglieder der Raumstation für sich entscheiden. Es gelingt, das Raumfahrzeug in Kluft zu landen, wo die verbleibenden sechzehn Menschen sicher vor Bolideneinschlägen und Weltraumstrahlung sind. Eine Woche später sind von diesen sechzehn acht weitere Menschen gestorben. „Ivy bat um eine vierundzwanzigstündige Pause zum Trauern und um Bilanz zu ziehen. Dann berief sie ein Treffen der gesamten Menschheit ein: Dinah, Ivy, Moira, Tekla, Julia, Aida, Camila und Luisa.“ (667) Die gesamte Menschheit: Das sind ausschließlich Frauen, die überlebt haben. Da alle tiefgefrorenen Spermien im Verlauf der Jahre vernichtet worden sind, stellt sich die Frage, ob es möglich ist, dennoch Nachkommenschaft hervorzubringen. Ist es: „Es gibt ein Verfahren namens Pathogenese, wörtlich Jungfrauengeburt, durch das aus einem normalen Ei ein elterlicher Embryo erzeugt werden kann.“ (672) Da sieben der acht Frauen noch Kinder bekommen können, werden diese Sieben Evas zu den Urmüttern einer neuen Menschheit. Genetische Vielfalt wird dadurch hergestellt, dass durch Eingriffe ins Erbgut bestimmte bevorzugte Merkmale einer jeden Frau besonders betont werden. Was für eine außergewöhnliche Situation: Es liegt in den Händen von sieben Frauen, mit der Entwicklung des Menschengeschlechtes noch einmal neu zu beginnen, alte, genetisch verankerte Eigenschaften des Homo sapiens zu verwerfen, um eine Zukunft zu gestalten, die nicht von Streit und kriegerischen Auseinandersetzungen geprägt ist. Gelingt das?

 

Mit dieser Aussicht hätte der Roman schließen können. Aber es gibt einen Teil 3, der die Situation fünf Jahrtausende nach der nahezu vollkommenen Auslöschung des Menschengeschlechts beleuchtet.

 

Über fünftausend Jahre siedeln die Nachkommen der Urmütter im Weltraum, erschaffen einen so genannten Habitatring, in dem die Nachkommen der sieben Frauen leben. Wie genau, hat sich mir in der Darstellung, offen gestanden, nicht erschlossen. Tatsächlich fand ich die Ausführungen, ebenso wie die detailgenauen Schilderungen des Auf- und Ausbaus der Raumstation, ermüdend, irgendwann stellte ich fest, dass ich nur noch las, aber die Fiktionalisierung, die Bildwerdung des Gelesenen nicht mehr stattfand. Als ob ich mich durch die Gebrauchsanleitung für ein technisches Gerät quälte. Doch Stephenson ist dem Leser noch die Antwort auf die Frage schuldig, was aus denen geworden ist, die – mutmaßlich – fünftausend Jahre unter der Erdoberfläche bzw. in den Tiefen des Meeres gelebt haben. Einige hundert Jahre zuvor haben die Nachkommen der Menschen, die im Habitatring leben, damit begonnen, die verwüstete Erde wieder fruchtbar werden zu lassen, indem Saatgut ausgebracht wird.

 

Auf einen ihrer Erkundungsflüge – Survey-Missionen - hat ein Abkömmling der Urmutter Moira – Kath Two - etwas Ungewöhnliches entdeckt, etwas, was nicht den ausgewilderten Tieren zuzuordnen war. Eine Gruppe von sieben Personen, eine aus jeder Abstammungslinie, wird zusammengestellt, um unter der Führung des Wissenschaftlers Hu Noah herauszufinden, ob es sich bei dem von Kath Two beobachteten Menschen um Abkömmling derer handeln könnte, die bei Beginn der Zerstörung der Erdoberfläche buchstäblich in den Untergrund gegangen sind. Obwohl es sich bei diesen sieben Personen um ganz und gar unterschiedliche Charaktere handelt, wirken sie in Stephensons Erzählung seltsam blutleer. Auch hier entsteht der Eindruck, dass dem Autor die technischen Eigenheiten seiner konstruierten Science-Fiction-Welt sehr viel mehr interessieren als die Charaktere, die sie bevölkern. Das ändert sich auch nicht, als die Gruppe tatsächlich Kontakt mit den Nachkommen der Menschen aufnimmt, die auf der Erde überlebt haben. „Diese Leute sind keine Nachkommen der Sieben Urmütter. Das sind Wurzelstockmenschen. Ihre Vorfahren haben den Harten Regen überstanden und irgendwie eine Möglichkeit gefunden, bis vor kurzem unter der Erde zu leben“, erklärt der Leiter der Expedition Doktor Hu. (912 f.) Die Nachfahren des Vaters von Dinah MacQuarie, einer der Urmütter, sind gar nicht gut auf die Menschen aus dem All zu sprechen: „Feiglinge, die ihr weggelaufen seid, dringt unbefugt in eine Welt ein, die ihr nicht mehr eure Heimat nennen dürft. Fort mit euch.“ (918) Es kommt zu einer Auseinandersetzung mit den „Diggern“, in der Doc Hu und seine Assistentin getötet werden. Schließlich stellt sich auch noch heraus, dass es in ihrer Gruppe mit Ariane ein „Maulwurf“ befand, der zu der Fraktion der „Roten“ gehört, die einige Jahrhunderte zuvor mit der der „Blauen“ einen Krieg geführt hat. Die genetische Optimierung der Nachkommen der sieben Urmütter beinhaltete also nicht eine Tilgung oder Reduktion der Gen-Sequenzen, die zu Aggressivität, Hass und Gewalt führen. Tatsächlich lag zumindest einer der Urmütter daran, dass ihre Nachkommen körperlich stark und kampfbereit waren, während diese Seite bei anderen Abstammungslinien nur reduziert ausgebildet ist. „Schau mal“, sagt Ty, „das sind jetzt Zeiten, wo die Entscheidungen, die unsere Urmütter vor fünftausend Jahren getroffen haben, unsere Handlungen in einem Maße steuern, das uns praktisch hilflos macht. Du warst dazu bestimmt, aus der Distanz heraus zu beobachten und zu analysieren.“ (933)

 

Ariane hat sich einen der Wurzelstockmenschen geschnappt, ist mit ihm in den Weltraum entwischt und hat ihn in den Roten Teil des Habitatrings gebracht. Einige Zeit später landen Abwurfkapseln in dem Bereich, in dem die Kontaktaufnahme stattgefunden hat. Diesmal sind es Angehörige der „Roten“, die, wie sich herausstellt, es sehr viel geschickter anstellen, die Gunst der Wurzelstockmenschen zu erwerben, sodass sie sofort „eine Allianz mit Rot unterzeichnet“ haben. „Rot hat ihren Anspruch auf die gesamte Landfläche der Erde anerkannt und Blau gedrängt, ihrem Beispiel zu folgen.“ (977) Womit die Grundlage für neue Feindseligkeiten gelegt worden wäre.

 

Offenbar ist es also Menschen auf der Erde gelungen, nach Beginn des Harten Regens für annähernd fünf Jahrtausende unterirdisch zu leben. Wie sie das geschafft haben sollen, ist für mich eines der großen ungeklärten Rätsel des Buches.

 

Das blaue Expeditionskorps macht sich auf zur Küste, um dort nach der Existenz von Menschen zu suchen, die „Pinger“ genannt werden und im Meer leben. Die Wurzelstockmenschen hatten an bestimmten Plätzen offenbar Kontakt mit ihnen. Die Geschichte der „Pinger“ ist „in drei Sintfluten unterteilt. Die Erste Sintflut bestand aus Felsen und Feuer und trieb sie in die tiefsten Gräben des Meeres, dort, wo es nie völlig austrocknete.“ (994) Als die Ozeane sich wieder auszudehnen begannen, „verwandelten sie sich in eine Ethnie, die im Meer schwimmen konnte.“(994) Das hört sich auch an wie ein schönes Märchen. Eines, das auch nicht wirklich aufgeklärt wird. Offenbar ist es dem Kommandanten des U-Bootes, Carl Blankenship, der mit Ivy verlobt war, gelungen, vor Beginn der katastrophalen Vernichtung der Erde in die Tiefsee abzutauchen und dort mit seiner Besatzung zu überleben. Aber wie? In der klaustrophobischen Enge eines Unterseebootes? Mit welchen Ressourcen an Nahrungsmitteln und – Hoffnung? Die Antwort auf diese Fragen ist, dass es offenbar ein dem der Weltraumbesiedlung ähnliches Programm gab, nur dass der Meeresboden ausgesucht wurde, um Menschen nach Beginn des Harten Regens das Überleben zu ermöglichen.

 

Während die Expeditionsmitglieder, die den Erstkontakt zu den Wurzelstockmenschen hergestellt haben, nun darauf warten, dass sich die Menschen aus dem Meer zeigen, gibt es einen Kampf zwischen ihnen und Angehörigen von „Rot“, den die „Blauen“ jedoch für sich entscheiden können. Schließlich kommt es zum Kontakt mit den Pingern: „Der Pinger war haarlos und glatt, und ihm fehlten, wie bald offensichtlich wurde, äußere Geschlechtsorgane.“ (1038) Ihre Körper haben sich in den Jahrhunderten, in denen sie sich mit dem Element Wasser auseinandersetzen mussten, so verändert, dass sie im Vergleich zu normalen Menschen ganz anders aussehen. „Sonar Taxlaws frühere Bemerkung über die genetische Entwicklung von Wölfen zu Pudeln war ein bisschen geschmacklos gewesen. Die Analogie besaß jedoch ihre Gültigkeit. Diese Leute waren im Vergleich zu normalen Menschen wie Bulldoggen gegenüber Jagdhunden. Es war genau dasselbe da- man musste nur etwas genauer hinschauen.“ (1039)

 

Beklemmend und gleichzeitig faszinierend in Stephensons Endzeit-Roman ist die gnadenlose Unabwendbarkeit dessen, was allem Leben auf dem Planeten widerfahren wird, dem es nicht gelingt, sich ins Weltall, in die Tiefen der Erde oder des Meeres zu flüchten. Keiner Bedrohung durch Klimawandel, Atomkrieg, epidemische Krankheiten, größenwahnsinnige Diktatoren, die immer noch ein „Weiter“ möglich erscheinen lassen, steht die Menschheit gegenüber, sondern das unausweichliche Diktum: Ende. Vollkommen. Absolut. Unausweichlich. All dies geschieht ohne einen Gott. Auch wenn die Menschen noch zwei Jahre nach dem Auseinanderbrechen des Mondes Zeit haben, sich darüber Gedanken zu machen, welche theologischen Dimensionen das Geschehen besitzt, ist das für den Autor kein Thema. „Die Zerstörung der Alten Erde und die Reduzierung der menschlichen Bevölkerung auf acht Personen hatten die Vorstellung, dass es einen Gott gab, zumindest in einem Sinne, der auch nur entfernt an dass Gottesbild der meisten Gläubigen vor Null erinnerte, zerstört.“ (793) So stirbt nicht nur alles, was auf der Erde lebt, sondern auch Gott, dem mit der nahezu vollständigen Vernichtung des Homo sapiens die Daseinsberechtigung abgesprochen wird. Gott ist tot, obwohl er zum Ende des Buches als „der Zweck“ eine eigentümliche Auferstehung feiert, gibt es doch 5000 Jahre nach den Seveneves Menschen, die der Auffassung sind, dass in dieser Geschichte doch ein Sinn verborgen sein könnte.

 

Tja, wer weiß …

 

Neal Stephenson: Amalthea Roman

Aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller und Nikolaus Stingl

Wilhelm Goldmann Verlag, München, 2015

 

copyright 2017 Hubertus Tigges

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